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Donnerstag, 2. Juni 2022

Der Schrei der Wildgänse

Mit einem Abstand von sieben Jahren habe ich das Buch "Der Schrei der Wildgänse" noch einmal gelesen. Es ist schon interessant, wie Bücher - gelesen zur richtigen Zeit - ihre ganz besondere Wirkung erzielen können.

Beim ersten Lesen des Buches "Der Schrei der Wildgänse" von Wayne Jacobsen und Dave Coleman waren wir gerade in der Phase, unsere über 20 Jahre hinweg aufgebaute und begleitete Gemeinde zu verlassen, da wir dort nicht mehr erwünscht waren. Das Buch spiegelte unsere Situation wider, wobei wir so viele Baustellen gleichzeitig zu bearbeiten hatten, dass viele der wertvollen Impulse einfach untergingen. Das Buch machte damals die Runde unter den Ehepaaren, die ebenfalls nicht mehr erwünscht waren, weil auch sie es gewagt hatten, den Pastor zu hinterfragen.

"Der Schrei der Wildgänse" von Wayne Jacobsen und Dave Coleman
"Der Schrei der Wildgänse" von Wayne Jacobsen und Dave Coleman - Foto: Pazifikküste Costa Rica


Zwischenzeitlich hat sich einiges bei uns getan. Wir haben viele andere Gemeinden kennengelernt: gesunde und weniger gesunde. Wir haben uns für fünf Jahre in einer internationalen Gemeinde eingebracht, neue Aufgabenfelder ausprobiert und interessante Menschen kennengelernt, die ihre Beziehung zu Jesus bauen. Und genau an diesem Punkt setzt das Buch an:

Der Protagonist, Jake, ist im Hamsterrad des Gemeindelebens gefangen. Er findet das zwar normal und richtig, ist aber sehr unzufrieden. Dann begegnet ihm John, ein geheimnisvoller, aber beeindruckender Typ, von dem bis zum Ende des Buches nicht klar wird, ob es sich um den Johannes aus der Bibel handelt. Das spielt letztlich aber auch keine Rolle, da es im Kern um die Auflösung des Konfliktes zwischen institutioneller Betriebsamkeit und tatsächlicher christlicher Gemeinschaft mit Fokus auf die Beziehung zu Jesus geht.

Immer wieder fallen Jake und seine Weggefährten in alte Muster zurück und können sich nur schwerlich von gewohnten Ritualen und Organisationsstrukturen lösen. Das beginnt bei der manipulativen Sprache, der gegenseitigen moralischen Kontrolle und endet bei der liturgischen Form privater Treffen im Wohnzimmer. In den geschilderten Situationen findet sich wohl jedes langjährige Gemeindemitglied wieder.

Die Autoren fordern dazu auf, über den Tellerrand hinaus zu denken. Das Reich Gottes nicht nur als die Ortsgemeinde zu sehen, sondern als einen dynamischen Körper von Menschen, die eine tiefe Beziehung zu Jesus suchen. So kann es Gemeinde auch auf der Parkbank, dem Parkplatz, dem Wanderweg, dem Restaurant oder dem Garten hinter dem Haus geben. So kommen die Wildgänse aus dem Titel auch erst im vorletzten Kapitel vor: Jake ist nach etwa vier Jahren schon so gereift, dass er anderen seine neuen Erkenntnisse und Erfahrungen weitergibt. Dann ziehen mehrere Gruppen von Wildgänsen über die Szene hinweg. Dabei wechseln die Vögel auch die Position in der V-Formation. Es sind mehrere Gruppen, die aber alle ein Ziel haben und sich letztlich an genau diesem Ziel treffen.

Auch wir haben sieben weitere Jahre an Erfahrungen gesammelt, so dass uns das Buch genau jetzt ganz neu erfrischt hat.

Mittwoch, 31. Juli 2019

Kontrollzwang Vertuschung Gespräche - Was tun bei geistlichem Machtmissbrauch?

"Kontrollzwang Vertuschung Gespräche" ist der Titel der dritten Auflage des Buches "Mitmachen Gehen Zerstören" über geistlichen Missbrauch. Es enthält jetzt noch mehr Seiten und weitere Beispiele aus der Missbrauchsszene.



Die ersten beiden Auflagen von "Mitmachen Gehen Zerstören" hatten für einigen Wirbel gesorgt. Irgendwann war das Buch auch bei den beschriebenen Akteuren und deren Kollegen aufgetaucht. Pastoren waren bis dahin durch aktives Desinteresse aufgefallen und nun erschüttert. Erschüttert jedoch nicht über das Geschehene, sondern darüber, dass sie viel zu leicht die realen Personen erkennen konnten. Ich solle eine Stellungnahme dazu abgeben, wie die Täter besser zu anonymisieren seien. Webaffine Teenager, Christen aus anderen Missbrauchssystemen und szenekundige Pressekollegen bestätigten mir jedoch, dass die Personen, Organisationen und Orte ausreichend anonymisiert worden waren und man nicht wisse, um wen es sich handelt.

Korpsgeist und Harmoniebedürfnis

So wurden neben dem neuen Abschnitt "Harmoniebedürfnis" auch noch einige Seiten zum "Korpsgeist" ergänzt. Korpsgeist ist wohl das größte Dilemma bei der Behandlung geistlichen Missbrauchs: Kleriker belasten sich nicht gegenseitig, egal was der Kollege angestellt hat. Wegen ihrer horizontalen Bezugsebene können sie oft gar nicht einschätzen, wie der ordinierte Bruder in der Vertikalebene agiert. Hinzu kommt die Wahrheitshoheit, die Pastoren von Amts wegen gepachtet haben.

Parallel dazu wurden mir jede Menge Beispiele aus anderen Missbrauchssystemen zugesandt. Diese sind in die dritte Auflage eingeflossen. Gegen einige der Schilderungen war unsere Situation eher wie ein Kindergeburtstag. Es taten sich Abgründe auf, die namhafte Gemeinden und Verbände betrafen.

Mitmachen Gehen Zerstören

Aus den diversen Büchern zu geistlichem Missbrauch hatten wir herausgelesen, dass es drei Methoden gibt, mit dem Thema umzugehen: Mitmachen als die schlechteste Variante, Gehen als die gesündeste und empfohlene Variante sowie Zerstören als die schwerste Variante. Letztere Variante ist im Abgleich mit 1. Johannes 3, 8 durchaus biblisch. Deshalb fand ich den Titel "Mitmachen Gehen Zerstören" sehr passend. Immerhin benannte er die Problemlösung.

Das Problem ist allerdings, dass viele Betroffene das Problem gar nicht benennen können. Deshalb wurde nun der Titel in die Symptome umbenannt: "Kontrollzwang Vertuschung Gespräche". Das sind Symptome, die in unserem Umfeld aufgetreten waren und auch regelmäßig aus anderen Missbrauchssystemen berichtet werden.

Kontrollzwang Vertuschung Gespräche - Was tun bei geistlichem Machtmissbrauch? Buch von Autor Matthias Baumann
"Kontrollzwang Vertuschung Gespräche - Was tun bei geistlichem Machtmissbrauch?" Das Coverfoto zeigt jetzt zwei Besen und einen angehobenen Teppich als Symbol für die konzertierte Vertuschung geistlichen Missbrauchs durch die Täter und deren kollegiales Umfeld. Das Bild war im Frühjahr bei einem Pressetermin auf dem Ehrenhof des Bundeskanzleramtes entstanden.
Kontrollzwang Vertuschung Gespräche

Der Facettenreichtum des Kontrollzwangs geht vom Kontaktverbot über Mitgliederakten bis zum gläsernen Menschen im Seelsorgegespräch. Die Gespräche laufen in allen Systemen nach dem gleichen Schema ab: Informationsgewinnung, Schuldumkehr, Erpressung, Neutralisierung. Und dann ist da noch der wichtige Aspekt der Vertuschung. Hier sind nicht nur die unmittelbar beteiligten Personen aktiv, sondern auch deren berufliches Umfeld. Bei der Vertuschung geht es um einen ganzheitlichen Ansatz: Es soll weder innen noch außen jemand etwas über die Missstände mitbekommen oder gar darüber sprechen.

Trug das Cover der ersten beiden Auflagen noch ein Foto mit einem Besen neben dem roten Teppich, sind es nun zwei Besen vor einem angehobenen roten Teppich. Täter im Talar genießen nach allgemeiner Erfahrung die absolute Narrenfreiheit. Sie können Kinder sexuell belästigen, ihre Gemeinde manipulieren, Christen dämonische Belastungen andichten, Ehen zerstören oder Sklavendienste für die Pastorenfamilie einfordern.

Lernen von Don Bosco

Don Bosco scheint bisher eines der wenigen kirchlichen Konstrukte zu sein, wo Missbrauch konsequent behandelt wurde. Das Geheimnis von deren Erfolg und Glaubwürdigkeit liegt nach meiner Einschätzung in den drei folgenden Aspekten:

  • Betroffene anhören und ernst nehmen
  • Vorgänge unabhängig prüfen
  • Konsequentes Vorgehen gegen die Täter

Gespräch

Nach einem Seminar von Team.F hatte ich mich noch einmal mit dem Täterumfeld getroffen. Man hatte eine Entschuldigung dafür parat, dass sich der im Buch erwähnte Jürgen Schymanski (Name geändert) zunächst als Mediator ausgegeben und dann - mit den sensiblen Informationen im Gepäck -  auf Anwalt umgeschaltet hatte. Es wurden dann einige Maßnahmen gegen geistlichen Missbrauch vorgestellt, deren praktische Wirksamkeit noch zu beweisen wäre.

Zwei Drittel des Gespräches befassten sich mit dem Buch. Dessen Inhalt war in die Kategorien "Arrogante Fehleinschätzungen", "Verleumdungen" und "Missverständnisse" eingeteilt worden. Sicher keine Ebene für einen konstruktiven Diskurs. Im Buch steht, dass solche Gespräche reine Zeitverschwendung sind. Das sehe ich immer noch so. Allerdings hatte ich ein Eigeninteresse an diesem Gespräch. So konnten nämlich auch Gegenargumente in die dritte Auflage einfließen.

Die zarten Ansätze von Aufarbeitungsüberlegungen motivierten mich zu einem Entgegenkommen, indem ich eine noch viel stärkere Anonymisierung vorgenommen habe. Auch die Ergänzung von weiteren Beispielen Dritter war wichtig, weil die Hauptakteure der Meinung waren, das Buch sei ihnen gewidmet.

Zielgruppe: Betroffene

Das Buch ist - wie schon in der Einleitung zur ersten Auflage erwähnt - für Betroffene geschrieben. Die knapp 170 Seiten lassen sich in etwa vier Stunden durchlesen.

Das Buch hilft Betroffenen, ihre Situation einzuschätzen, zu benennen, aus problematischen Systemen auszusteigen und in einen Heilungsprozess zu gelangen. Das Feedback der Zielgruppe zeigt, dass das funktionieren kann.

Freitag, 21. Juni 2019

Der Bischof und die wehrhafte Demokratie

Die Bundeswehr ist ungewollt zu einer Parallelwelt der Gesellschaft geworden. Ebenso leben auch Christen als Bundeswehrangehörige in einer christlichen Parallelwelt. Als Sigurd Rink vor einigen Jahren zum ersten Evangelischen Militärbischof berufen wurde, fiel er aus allen Wolken. Er war doch als Friedensaktivist und Fundamentalpazifist bekannt.



Zurzeit übernachte ich öfter in Kasernen als in Hotels. Auch sonst habe ich regelmäßig mit Offizieren und Soldaten zu tun. Deshalb war ich gespannt auf ein Buch, das der Evangelische Militärbischof Sigurd Rink geschrieben hatte: "Können Kriege gerecht sein?"

Sigurd Rink nähert sich dem Thema Christ und militärische Gewalt auf verschiedenen Ebenen an. Zunächst beschreibt er seinen eigenen Werdegang, seine Kindheit im Internat, sein frühes Glaubensumfeld, seinen Einstieg in die Friedensbewegung, seine Herausforderungen im Gemeindealltag und seinen Umdenkungsprozess während des Völkermordes in Ruanda.

Und dann plötzlich die Anfrage, erster Evangelischer Militärbischof zu werden. Bei seiner Buchvorstellung Anfang Juni 2019 sagte Sigurd Rink, dass er wohl schon immer einen "Hang zu Grenzbereichen der Ethik" gehabt habe. Er habe sich bereits mit Geschäftsethik befasst und dafür ordentlich Prügel einstecken müssen - aus den eigenen Reihen.

Sigrud Rink "Können Kriege gerecht sein?"
Evangelischer Militärbischof Sigrud Rink: "Können Kriege gerecht sein?"
Prügel muss er nun auch für dieses Buch einstecken. Seine Familie hat ihm bereits avisiert, dass er jede Menge Exemplare zum nächsten großen Treffen mitbringen solle und man ihn entsprechend auseinander nehmen werde. Der Militärbischof ist aber inzwischen den Gegenwind gewohnt. er sitzt zwischen sämtlichen Stühlen: Familie, Gesellschaft, Bundeswehr, Klerus, alte Freunde. In Gemeindekirchenräten wird diskutiert, ob "so jemand" überhaupt predigen dürfe. Beim Kirchenkaffee nach dem Gottesdienst wird er von aufgebrachten Zuhörern angegangen.

Sigurd Rink sieht das sportlich. Wie ein glatt gewaschener Fels steht er in der Brandung der Angriffe der lieben Geschwister. Weiß er doch, welch einen Segen sein Dienst in der Bundeswehr bringt. Er ist viel unterwegs und besucht die Soldaten an ihren Standorten und im Auslandseinsatz. Wenn er auftaucht, gibt es erst einmal einen Beer-Call, bei dem sich nach Feierabend die Soldaten um ihn scharen und von ihren persönlichen Herausforderungen reden. Erst am Folgetag kümmert sich der Bischof um seine Kollegen vor Ort. Die Militärseelsorge ist nicht in die Strukturen der Bundeswehr eingefügt, sondern agiert als externer Bestandteil. Militärseelsorger haben keine Berichtspflicht und können deshalb über sehr intime und pikante Themen schweigen. Das Vertrauen der Truppe in die Seelsorger ist hoch. Gelegentlich werde ich selbst Zeuge davon.

Der Militärbischof nähert sich mit Ernst, Intelligenz und Offenheit für Umdenkungsprozesse neuen Themen an. Er bildet sich nach Abwägung eines größeren Kontextes eine Meinung und steht dann auch zu dieser. Deshalb enthält das Buch nach der biografischen Einleitung noch weitere Teile. Im zweiten Teil zeigt der Autor, dass sich sämtliche Kirchenväter von Augustinus bis Luther mit dem Thema Christ und Soldat oder Christ und bewaffnete Regierung auseinandersetzen mussten. Er beschreibt deren Denkprozesse und die auch heute noch in der Militärethik genutzten Grundsätze.

Ein besonders langer Abschnitt widmet sich den aktuellen Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Die eigenen Erfahrungen vor Ort bettet er in einen flüssig lesbaren Kontext sicherheitspolitischer Zusammenhänge ein. Immer wieder wird klar: Er bildet sich seine eigene Meinung und vertritt diese auch gegenüber der Verteidigungsministerin. Apropos Verteidigungsministerin: Diese hatte das Buch bereits gelesen und zeigte sich beeindruckt.

Ich fand das Buch sehr hilfreich zur Nachschärfung des eigenen Standpunktes gegenüber der wehrhaften Demokratie. Das Buch und die authentische Persönlichkeit des Schreibers ermutigten mich, ebenfalls zu meiner Meinung zu stehen, auch wenn es Widerstände aus den eigenen Reihen gibt.

Donnerstag, 27. Dezember 2018

Kawohl rettet die Familienfeier

Ein kleines Kästchen mit Frage-Karten kann Flauten und peinliche Richtungen der familiären Kommunikation korrigieren helfen. An den Weihnachtstagen haben wir das getestet.



Im November stand der 70. Geburtstag meiner Schwiegermutter auf dem Programm. Sie hatte uns dazu in ein Restaurant in Charlottenburg eingeladen. Brunch von 13 bis 16 Uhr. Drei lange Stunden, in denen ich mich politisch korrekt verhalten musste. In der ersten Stunde gelang mir das sehr gut. Abgesehen vom antizyklischen Vorgehen am Buffet. Es war dort aber wirklich sehr voll. Nach einer Stunde ununterbrochenen Essens war ich so satt, dass ich auf dem bequemen Sitz nach unten rutschte und wohl etwas zu laut gähnte. Beides passiert mir wohl auch in Gottesdiensten, wenn der Redner nicht zum Punkt kommt.

Kritik und Lösung

Dieser Vorfall hatte Konsequenzen. In der nächsten Familienkonferenz stand mein unpassendes Verhalten auf der Agenda. Drei ernste Augenpaare waren auf mich gerichtet. Ich wurde gefragt, ob ich das bei beruflichen Anlässen auch so mache. Keine Kritik ohne Lösungsvorschlag: Meine Frau meinte, es gäbe ein Kartenspiel mit Fragen. Damit könne man das Gespräch ankurbeln und lerne die Anwesenden besser kennen. Die Karten seien bereits bestellt.

Als wir weitere Details wissen wollten, wurde meine Frau plötzlich sehr wortkarg. Was hatte sie zu verbergen? Wir bohrten weiter und dann gab sie kleinlaut zu: Die Karten seien von Kawohl. Breites Grinsen entfaltete sich auf unseren Gesichtern und gleichzeitig Skepsis. Kawohl ist doch der Verlag, dessen Bildsprache diametral mit dem abgedruckten Text harmoniert. Ein rein fiktives Beispiel wäre das Foto einer alpinen Schneelandschaft kombiniert mit dem Spruch "Herr, deine Liebe ist wie Gras und Ufer". Wenn wir in Gemeinderäumen große Plakate sehen, bei denen Bild und Text lediglich in einem farblichen Verhältnis zueinander stehen, ist ohne weitere Prüfung klar: Es handelt sich um ein echtes Kawohl.

Kunststoff-Box mit Frage-Karten

Wir waren gespannt. Bald traf das Päckchen ein und ich durfte die Karten auspacken. "Erzähl mir von Dir" enthält 62 Frage-Karten, die in einer stabilen Kunststoff-Schachtel aufbewahrt werden. 62 Fragen, die das Gespräch innerhalb der Familie ankurbeln können. Kein Kawohl ohne Bild. So wurde für dieses Spiel ein Familien-Foto eingekauft, das an zentraler Stelle ein auffälliges Dekolleté der vermeintlichen Mutter darstellte. Vater, Kinder und Großeltern waren nicht ganz so sommerlich bekleidet. Abgesehen vom Deckblatt, wird das Dekolleté auf den anderen Karten durch den Fragetext kaschiert.

Spielregeln gibt es nicht. Irgendwer zieht eine Karte und beantwortet sie selbst oder gibt sie an seinen Nachbarn weiter oder alle antworten auf die Frage. Die Erfahrung der letzten Tage zeigt, dass eine Frage ausreicht, um ein längeres Gespräch in Gang zu setzen. Gelegentlich muss moderierend eingegriffen werden. Im Großen und Ganzen überbrückt es aber die üblichen Pausen. Steht die Box griffbereit auf dem Tisch, kann jederzeit eine neue Frage in die Runde geworfen werden.

Familie im Gespräch

Schwager, Schwägerin, Omas, Kinder, meine Frau und ich mussten uns mit Fragen wie "Wer beeinflusst deine Zukunft?", "Wessen Zukunft beeinflusst du?", "An welchen Geruch aus der Kindheit erinnerst du dich?", "Mit wem würdest du dich gerne mal zwei Stunden unterhalten? Warum?", "Was war deine beste Entscheidung des letzten Jahres?" oder "Welche Eigenschaften deiner Eltern entdeckst du an dir?" auseinandersetzen. Keine Antwort ist auch eine Antwort.

Jedenfalls kommen Dinge zur Sprache, über die man bisher noch nie mit der Familie geredet hat. Vielleicht hat man sich darüber selbst noch nie Gedanken gemacht. Das Spiel regt Denkprozesse an, die noch weit über das Treffen hinaus gehen und Anknüpfungspunkte für weitere Unterhaltungen bieten. Die Karten eignen sich auch für Zusammenkünfte mit Freunden und Kollegen. Die Anwesenden müssen keine Christen sein, da die Fragen persönlich, aber nicht unbedingt geistlich, gehalten sind.

Nach unserem Selbsttest an den drei Weihnachtstagen können wir den Kauf der kleinen Box sehr empfehlen.

Montag, 8. Oktober 2018

Mitmachen Gehen Zerstören - Umgang mit geistlichem Machtmissbrauch

Vertuschung, Kontrollzwang, Masken, Intrigen und irritierende Gespräche könnten ein Indikator für geistlichen Missbrauch sein. Oft scheitert es schon an der Benennung, so dass Betroffene völlig isoliert damit fertig werden müssen. Betroffen sind meist fitte und aktive Christen, die in Konflikt mit ihrem unsicheren oder inkompetenten Leiter geraten.



Die Sommerpause war diesmal besonders lang. Kaum Pressetermine, wenige Kundenanfragen, keine Fernreise. So wurde die Sommerzeit dazu genutzt, unser Gartenhaus von normal in Schwedisch umzufärben. Also nicht Blau und Gelb, sondern robustes Falunrot mit weißen Kontrastlinien. Damit waren wir zwei Wochen beschäftigt. Aus Langeweile las ich mir das Weißbuch der Bundesregierung von 2016 durch und hatte trotzdem immer noch viel Zeit.

Schreib' doch endlich mal das Buch!

"Schreib' doch endlich mal das Buch über geistlichen Missbrauch!", kam die Anregung aus der Familie. Hm, aber wo anfangen? Ich setzte mich hin und begann bei der Skizzierung der Ereignisse, die nun schon drei Jahre zurücklagen. Nach einer Woche war das Manuskript auf 120 Seiten angewachsen. Erlebnisse und Prinzipien wurden miteinander kombiniert, so dass der Text einen Mix aus gut lesbarer Story und Wissen darstellte.

Mitmachen Gehen Zerstören - Umgang mit geistlichem Machtmissbrauch - Matthias Baumann
Mitmachen Gehen Zerstören - Umgang mit geistlichem Machtmissbrauch - Autor: Matthias Baumann - Was haben wohl ein Teppich und ein Besen mit geistlichem Machtmissbrauch zu tun?
Um einen möglichst hohen Mehrwert für eine breite Leserschaft zu bieten, sandte ich das Manuskript an etwa zehn Personen. Darunter waren Weggefährten, Betroffene aus anderen Missbrauchssystemen und völlig unbeteiligte Berater, auf deren Meinung ich einen großen Wert lege. Den angefragten Pastoren war das Thema wohl zu heiß. Deshalb konnte keine pastorale Meinung in das Buch einfließen.

Resonanz auf das Manuskript

Die Resonanz war ermutigend und erschütternd zugleich. Ungeahnt schnell hatten meine Lektoren das Manuskript durchgelesen und gaben mir teilweise sehr ausführliche Rückmeldungen. Dadurch konnten weitere Sichtweisen und Beispiele in das Buch aufgenommen werden. Die wenigen mit Ironie gewürzten Passagen wurden entfernt und eine große Schnittmenge der allgemeinen Lesbarkeit und Verständlichkeit eingearbeitet. Vielen Dank!

Erschütternd war, dass auch die als unbedarft angesehenen Leser massiv an alte Situationen erinnert wurden. Jeder der Leser war getriggert. Triggern heißt, dass als vergessen geglaubte Dinge plötzlich wieder hochkommen und erneut verarbeitet werden müssen. Wenn kein Heilungsprozess stattgefunden hat, kann die Wunde erneut aufreißen. Allein das Manuskript hatte Denkprozesse angestoßen, die für eine abschließende Heilung nützlich sein können.

Drei Optionen

Der Titel des Buches setzt sich aus den drei Optionen zusammen, die einem Betroffenen bei geistlichem Machtmissbrauch zur Verfügung stehen: Mitmachen oder Gehen oder Zerstören. Dabei ist Mitmachen die schlechteste Lösung, Gehen die gesündeste Lösung und Zerstören die schwerste Lösung. Auf den über 150 Seiten geht es um den schleichenden Beginn, die heiße Konfliktphase, das Danach, die konkreten Schritte zur Heilung und letztlich die Möglichkeiten des Zerstörens solcher Missbrauchssysteme.

Das Coverbild der ersten beiden Auflagen war kurz vor dem Besuch des Vorsitzenden des Ministerrates von Bosnien und Herzegowina am 13. August 2018 im Kanzleramt entstanden. Besen und Teppich symbolisieren eines der wichtigsten Prinzipien des geistlichen Missbrauchs: unter den Teppich kehren.

Wichtiger Hinweis (23. Januar 2019):

Wegen des regen Feedbacks zur ersten Auflage wurde das Buch noch einmal gründlich überarbeitet. Es ist auch ein längerer Abschnitt zum Thema "Korpsgeist" ergänzt worden. Korpsgeist ist das größte Dilemma bei der Aufklärung und Aufarbeitung von geistlichem Missbrauch.

Das Buch liest sich jetzt noch flüssiger und schneller. Wer ab dem 5. Januar 2019 über Amazon bestellt hat, sollte schon die zweite Auflage erhalten haben. Auch das eBook wurde auf die zweite Auflage umgestellt.

3. Auflage unter neuem Titel (8. Juli 2019)

Ein Treffen mit dem Täterumfeld im Mai 2019 zeigte Ansätze von Aufarbeitungswillen und dass das Buch wie eine Granate am Ziel eingeschlagen war. Deshalb wurde das Buch noch einmal komplett überarbeitet und stärker anonymisiert. Letzteres war das Hauptanliegen des Täterumfeldes. Laut Pressekollegen und externer Betroffener sei das zwar nicht notwendig gewesen, aber die zarten Versuche der Etablierung von Mechanismen gegen geistlichen Machtmissbrauch wollte ich durchaus würdigen.

Bei dieser Gelegenheit wurde der Titel geändert in: "Kontrollzwang Vertuschung Gespräche - Was tun bei geistlichem Machtmissbrauch?". Da viele Betroffene erst einmal das Problem benennen müssen, macht sich ein Titel mit den Symptomen geistlichen Machtmissbrauchs wesentlich besser, als ein Titel, der die Lösungsvarianten "Mitmachen Gehen Zerstören" vorgibt.

Das Buch enthält jetzt noch mehr Seiten und weitere Beispiele aus der Missbrauchsszene. Es ist als Taschenbuch und als eBook erhältlich.

Montag, 16. April 2018

Heinrich Grüber und der Kirchenkampf der Nachkriegszeit

Und wieder lief mir ein wichtiger Akteur der Bekennenden Kirche über den Weg: Heinrich Grüber. Eher beiläufig erfuhr ich von einer Doktorarbeit über Grübers Wirken nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Ausführungen habe ich dann sogleich gelesen.



Wir genossen die Frühlingssonne, als wir zum Savoy schlenderten. Militärbischof Dr. Sigurd Rink sprach über die Geschichte seines Dienstgebäudes unmittelbar neben dem Bahnhof Zoo. Dort habe auch ReiBi Müller gesessen. Das niedliche ReiBi bedeutet Reichsbischof und war für die Christen der damaligen Zeit gar nicht niedlich. Der ReiBi gehörte den Deutschen Christen (DC) an, über deren Spezifika hier ja in letzter Zeit mehrfach berichtet wurde.

Die gegenüberliegende Bahnhofsmission war eine der Einrichtungen, die nach 1933 zuerst verboten worden war. Ein Zeichen für deren gute Arbeit. Im Gespräch über die DC fielen schnell die Namen Niemöller und Grüber. Eher beiläufig erwähnte der Bischof dazu, dass er seine Doktorarbeit über Heinrich Grüber geschrieben habe.

Schon wieder Grüber

Mir klappte die Kinnlade herunter. Stand doch ein Denkmal von Grüber direkt vor dem CVJM-Haus in Kaulsdorf. Doktor Rink als gebürtiger Hesse hätte doch über sonst welche praxisfernen Themen der Theologie schreiben können, aber ausgerechnet über Heinrich Grüber? Das war so spannend, dass ich nach dem Termin mit einem orangenen Buch und einer persönlichen Widmung das Haus verließ.

Sigurd Rink - Der Bevollmächtigte Probst Grüber und die Regierung der DDR - Doktorarbeit
Sigurd Rink "Der Bevollmächtigte - Probst Grüber und die Regierung der DDR" (Doktorarbeit)
An zwei Arzt-Terminen und einem Wochenende verschlang ich die 246 Seiten der Doktorarbeit. Titel: "Der Bevollmächtigte - Probst Grüber und die Regierung der DDR".

Die Arbeit stellt nicht nur eine fundierte Informationsquelle zu den politischen und kirchlichen Zuständen zwischen 1945 und 1958 dar. Sie zeigt auch sehr deutlich, dass dessen Autor Wert auf allgemeine Verständlichkeit legt. Sobald man sich mit dem Schriftbild angefreundet hat, liest sich das Werk sehr flüssig. In sehr seltenen Fällen werden Fremdwörter, lateinische Begriffe oder Zitate auf Englisch verwendet.

Pragmatiker und Diplomat

Systematisch nähert sich Sigurd Rink den jeweiligen Lebensabschnitten Heinrich Grübers. Dabei werden die politischen Zusammenhänge und Machtgeflechte mit den speziellen Begabungen Grübers in Verbindung gebracht. Heinrich Grüber war theologisch ausgebildet, hatte seinen Schwerpunkt jedoch immer in den sozialen Aspekten des barmherzigen Samariters gesehen. Das Samariter-Gleichnis war die rote Linie in seinen Entscheidungsprozessen und seinem sehr beherzten, schnellen und flexiblen Handeln. Heinrich Grüber war Pragmatiker und diplomatisch gewandt. Heute würde man ihn als Networker, Lobbyisten und Manager bezeichnen.

Grüber, der selbst einige Zeit im KZ gesessen hatte, kam in den 13 Jahren nach dem Krieg faktisch vom Regen in die Traufe. Getrieben vom Samariter-Vorbild kümmerte er sich mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln und Kontakten um eine praktische Linderung der Not in Berlin. Er bewies Fingerspitzengefühl beim Umgang mit der russischen Besatzungsmacht und den Entscheidern beim Magistrat. Er vernetzte Hilfsorganisationen, Kirchenstellen, überkonfessionelle Akteure und Staatssekretäre. Auch international war er bekannt und anerkannt. So konnte er Einiges in Sicht auf die schwierige Versorgung mit Medikamenten und medizinischem Gerät erreichen.

Tatsachen schaffen und Kirche aushungern

Sobald die Seitenzahl dreistellig wurde, konnte ich das Buch kaum noch zur Seite legen. Stalins Tod, der vorauseilende Gehorsam der SED-Führung, die Vorbereitung juristischer Rahmenbedingungen zur Zerstörung der Kirche in Ostdeutschland und deren praktische Anwendung illustrierten einen Teil der Zeitgeschichte, dem ich mich in dieser Intensität und differenzierten Betrachtung noch nie genähert hatte.

Heinrich Grüber zieht sich zwar durch alle Kapitel hindurch, ist aber oftmals gar nicht der Hauptdarsteller. Spannend ist die Interaktion seiner Bezugspersonen. Diese standen immer auch im Spannungsfeld des beginnenden Kalten Krieges, der Besatzungsmacht, der Pressefehden und dem systematischen Aushungern der Kirche im Osten.

Jugend und Zukunft

Schon oft habe ich an dieser Stelle bemerkt, dass wir in den Gemeinden Berlins nur selten eine funktionierende Jugendarbeit angetroffen haben. Unser damaliges Gründungsprojekt in Marzahn hatte ja einen starken Fokus auf Jugendliche und eine entsprechend hohe Fluktuation. Das änderte sich nach etwa 10 Jahren, als die jugendliche Kern-Mannschaft die Zwanzig überschritten hatte. Die Zielgruppe änderte sich darauf in Richtung Mittdreißiger mit Kleinkindern. Die typische Demografie der angesagten Gemeinden Berlins.

Die Doktorarbeit von Sigurd Rink setzt hier noch einmal einen sehr klaren Akzent. In den 1950er Jahren entbrannte ein erbitterter Kampf um die Jugend im Osten Deutschlands. Die Freie Deutsche Jugend (FDJ) sollte die Themen besetzen und die Junge Gemeinde wurde aktiv verfolgt. Das Ergebnis bekamen wir Mitte der 1990er Jahre in Marzahn zu spüren. Atheismus in dritter Generation: "Den englischen Text verstehe ich, aber was ist ein Jesus?"

Good Guy - Bad Guy

Trotz seines Pragmatismus und seiner ausgeprägten Manager-Fähigkeiten, war Grüber durch und durch Diplomat und bezeichnete sich immer wieder selbst als Pontifex - Brückenbauer. Dialog und Zielerreichung in kleiner Runde waren seine Strategie. Dem gegenüber stand Bischof Otto Dibelius, sein Chef. Dieser ging die sowjetische Besatzungsmacht und die SED-Führung offen und konfrontativ an und zog sogar Vergleiche zur jüngst abgelösten Diktatur. Damit erzielte er zwar auch Effekte, aber keine, die der Kirche genützt hätten.

Grüber hatte mit seiner Diplomatie wesentlich mehr Erfolg. Allerdings auch nur bis 1958. Dann fühlte sich der Machtapparat der DDR so gefestigt, dass sämtliche Brücken zwischen evangelischer Kirche und Staat abgebrochen wurden. Der Ministerpräsident entzog Grüber die Akkreditierung und die Angelegenheiten der Kirche wurden an die Regionalebenen delegiert. Damit gab es keinen einheitlichen Ansprechpartner mehr und der Klassenfeind Kirche war als segmentierter Feind besser zu bekämpfen.

Selbst lesen

Man könnte hier sicher noch auf die Massenflucht, die fatalen Wirkungen des Militärseelsorge-Vertrages, die Sicht der Russen auf die Stellung der Kirche oder die legislativen Vorbereitungen eingehen. Das würde aber an dieser Stelle zu weit führen.

Ich jedenfalls fand die Lektüre äußerst spannend und kann das Buch in mehrfacher Hinsicht empfehlen: Geschichtsbildung, Charakterbildung und Durchblick in verschiedenen Macht-Konstruktionen bei Kirche, Organisationen und Staatsgebilden.

Mittwoch, 27. Dezember 2017

Renate Bergmann und das Krippenspiel

Renate Bergmann ist eine 82-jährige Omi, die das Internet nutzt und dieses aktiv in ihren Alltag einbindet. Alle zwei bis drei Wochen besucht sie den Gottesdienst und will nun auch ein Krippenspiel organisieren, an dem alle Generationen beteiligt sind.



Achtung! Gebürtige Sachsen oder Schwaben sollten das Buch nicht lesen. Erfahrungsgemäß fühlen sie sich durch den Humor des Berliners überfordert. Wir fanden das Buch jedenfalls sehr lustig und mussten mehrfach innehalten, um Luft zu holen und die Tränen abzuwischen.

Renate Bergmann liebt ihren Kiez: Spandau. Spandauer sind zwar der Meinung, dass sie nicht zu Berlin gehören. Das sieht der Stadtplan jedoch anders. Der Stadtteil Spandau befindet so weit im Westen, dass er schon fast wieder im Osten liegt: Brandenburg. Soweit die Insider-Informationen zum Kiez der Rentnerin.

Renate Bergmann - Wir brauchen viel mehr Schafe
Renate Bergmann - Wir brauchen viel mehr Schafe
Renate Bergmann hat mehrere Bekannte in ihrem Alter und erlebt mit diesen sehr alltägliche Dinge. Am liebsten geht sie zu Beerdigungen, da es dort immer kostenloses Essen gibt und die Tupper-Dosen für die Kühltruhe nachgefüllt werden können.

"Wir brauchen viel mehr Schafe" ist nicht das erste Buch, das wir von Renate Bergmann lasen. Es gibt bereits sechs Bände von der Online-Omi. Ich war zunächst skeptisch, ob die humoristische Linie wirkungsvoll fortgesetzt werde. Doch schon zu Beginn gab es so köstliche Pointen, dass ich die ersten 50 Seiten in einem Zuge durchlas.

Als meine Frau dann von ihrem Offline-Oma-Besuch eintraf, las ich ihr das noch einmal vor und gelangte in einem Rutsch bis Seite 102. Zwischendurch mussten wir mehrfach zum Taschentuch greifen, die Tränen abwischen und die normale Atmung zurückgewinnen. Selbst mein Sohn musste an verschiedenen Stellen lachen. In seinem Alter gilt das normalerweise als uncool. Er verfolgte die Vorlesung von seinem Zimmer aus.

Ach so, in diesem Band geht es um eine gewisse Frau Schlode, die das Adventsprogramm organisieren soll. Sehr zum Unbehagen von Renate Bergmann, die singende Kinder so gar nicht mag. Also nichts gegen Kinder, aber singen, musizieren oder tanzen sollten sie auf keinen Fall. Frau Schlode ist Kindergärtnerin und leitet sämtliche Chöre im Kiez.

Das Buch schildert auf seinen 169 Seiten, wie Renate Bergmann bei der Lösung des Problems vorgeht. Zwischendurch erfährt der Leser einige Episoden aus dem langen Leben der Seniorin und erhält Tipps für Weihnachtsgeschenke: Topflappen beispielsweise.

Immer wieder taucht auch Pfarrer Kampfert auf, der je nach Situation als einfühlsamer Charmeur, Herr Pfarrer oder als Pfaffe dargestellt wird. Die Vermengung von evangelischen und katholischen Eigenheiten offenbart, dass Renate Bergmann wohl doch zu selten im kirchlichen Umfeld unterwegs ist. Für die Story ist das unerheblich.

Viel Spaß beim Lesen!

Dienstag, 31. Oktober 2017

Luther beantwortet Frage: Christ als Soldat?

Christ und Waffe ist in der Szene sehr umstritten. Es gibt Pro und Contra sowie die einschlägigen Bibelstellen mit der anderen Wange oder dem Sinn der obrigkeitlichen Gewalten. Auch Martin Luther musste sich vor fast 500 Jahren dazu positionieren.



Zum heutigen Reformationstag flatterte eine Pressemitteilung des evangelischen Militärbischofs ins Haus. Darin wurde wieder einmal auf die Kriegsleute-Schrift von Martin Luther verwiesen. Er hatte sie 1526 geschrieben. Diesmal wollte ich mir selbst ein Bild machen und las den Text des kleinen Büchleins.

Am Rande eines kurfürstlichen Events wurde Luther von einem Ritter befragt, wie denn das Kriegshandwerk mit dem christlichen Gewissen zu vereinbaren sei. Die kämpfenden Kollegen hätten entweder massive Gewissensbisse oder seien gänzlich vom Glauben abgefallen. Luther nahm sich des Themas an und verfasste die Schrift "Ob Kriegsleute in seligem Stande sein können".

Amt versus Person

Nach einer kurzen Einleitung nimmt der Reformator eine Unterscheidung vor, die den Leser durch das gesamte Buch begleitet:
"Ein Amt oder eine Tat kann an sich sehr wohl gut und richtig sein, aber doch böse und falsch, wenn die Person oder der Täter nicht gut oder richtig ist oder nichts richtig macht."

So könne sich selbst ein von Gott gewollter Auftrag ins Negative verkehren, wenn die ausführende Person aus egoistischen Motiven wie Ehrsucht und Geldgier handelt. Der Autor bringt so pikante Beispiele wie den Kuss des Judas. Der Kuss an sich sei etwas Gutes, im Kontext des Judas-Kusses sei dieser aber in einer zutiefst negativen Bestimmung angewendet.

Gerechter und ungerechter Krieg

Der Reformator schreibt über die unterschiedlichen Formen bewaffneter Konflikte. Für die Fallbeispiele dient ihm vorrangig das 1. Samuel-Buch. Es taucht auch der Begriff des gerechten Krieges auf. Habsucht und Tyrannei seien Wurzeln des ungerechten Krieges. Die Landesverteidigung beurteilt er dagegen als einen gerechten Krieg.

Bürgerkrieg

Detailliert geht er auf die hierarchische Richtung von Kriegen ein. Den Bauernkrieg lehnt er entschieden ab, obwohl damit gewisse Tyrannen gerichtet wurden. Er ergreift für keine der beiden Seiten wirklich Partei. Stattdessen verweist er beharrlich auf die obrigkeitlichen Gewalten aus Römer 13, 1 und darauf, dass Gott selbst die problematische Führungsebene richten werde. Das Vollstrecken des Gerichtes an gottlosen Führen bezeichnet er mehrfach als "crimen laese maiestatis divinae" - einen Raub der göttlichen Majestät. Dadurch schließe sich der Kreislauf des Unrechts.

Mit zwei Beispielen macht Luther deutlich, dass die Absetzung des einen Herrschers nicht automatisch einen besseren Nachfolger bringt. Es kann sogar schlimmer werden, was sich bis heute zeigt. Luther kommentiert das in seiner rustikalen Art:
"Der tolle Pöbel aber fragt nicht viel, wie es besser werde, sondern nur danach, dass es anders werde. Wenn es dann schlimmer wird, will er wieder etwas anderes haben."

An einigen Stellen könnte der Leser dennoch meinen, Luther schreibe ein Buch für die Fürsten. Dem tritt er entschieden entgegen und formuliert sehr deutlich, dass sich die Gottlosigkeit durch alle Gesellschaftsschichten ziehe und jeder in seiner individuellen Position von Gott zur Rechenschaft gezogen wird.

Weil Luther sämtliche Standes-Ebenen tangiert, lassen sich die Ausführungen nicht nur auf damalige Ritter und Soldaten adaptieren, sondern auch auf heutige Unternehmer, Regionalpolitiker, Witwen, Empfänger von Arbeitslosengeld II und weitere Bevölkerungsgruppen.

Wer beginnt, verliert.

Im zweiten Teil des Buches stellt Luther eine interessante These auf, die er mit diversen Bibelstellen und Beispielen seiner Zeit untermauert: Wer einen Krieg beginnt, verliert diesen auch. Deshalb spricht sich Luther sehr klar für Notwehr und Landesverteidigung aus. Angriffskriege lehnt er ab. Es sei denn, der Angriff ist für die Verteidigung notwendig.

Luther stellt sogar volkswirtschaftliche Überlegungen an. So sei der Bauer für die Nahrung, der Soldat für den Schutz des Landes und der Fürst für den Dienst am Volk zuständig. Unnütze Leute solle man nicht dulden, sondern aus dem Lande jagen. Deshalb sieht Luther die Landsknechte sehr kritisch, da sie in der Regel nur Lust auf Krieg hatten. In der Zeit zwischen ihren Freelancer-Aufträgen seien sie jedoch keiner nützlichen Tätigkeit nachgegangen.

Beziehung zu Gott

Die Beziehung des einzelnen Menschen zu Gott zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch. Es beginne damit, dass Gott mehr gehorcht werden solle, als einem Tyrannen - und das mit allen Konsequenzen. Luther zitiert dazu aus der Apostelgeschichte. Zudem solle der Soldat den Feind nicht verachten, sondern als Menschen sehen, der auch mit seinen Sünden zu tun habe.

Luther wünscht sich zum Abschluss viel mehr Soldaten mit einer Christus-Beziehung in den Armeen. Das könnte das Klima in der Truppe verändern und: "Sie fräßen wohl die Welt ohne einen Schwertstreich".

Nachhaltige Wirkung

Die Leitlinien des kleinen Buches tauchen auch heute noch in den Ethik-Diskussionen der Bundeswehr auf. Bei verschiedenen Anlässen war ich erstaunt, wie tief biblische Grundlagen im Denken, Reden und Handeln der Offiziere verwurzelt sind. Überhaupt gibt es bei der Bundeswehr Gottesdienste und Andachten, die am Otto Normalchristen völlig vorbeilaufen. In den sicherheits-politischen Publikationen sind regelmäßig Artikel mit christlichen Themen zu finden.

Allein der Evangelische Militärbischof Dr. Sigurd Rink aus Berlin hatte bisher 80 Standorte und Auslandseinsätze besucht. Angesichts von Gefechtssituationen oder familiären Herausforderungen dienen die Seelsorger als wichtige Ansprechpartner der Soldaten. So überschneiden sich auch 500 Jahre nach Luther noch die obrigkeitlichen mit geistlichen Bereiche. Sigurd Rink bemerkt dazu, dass es den Kirchenvertretern nicht um die Ausübung politischer Macht gehe, sondern um einen kritischen Einfluss auf die Politik.

Montag, 23. Oktober 2017

Lob der Torheit - Erasmus von Rotterdam

Erasmus von Rotterdam war ein Zeitgenosse Luthers. Das Buch "Laus stultitiae" - "Lob der Torheit" gilt als sein bekanntestes Werk. Ich habe es gelesen.



Nach den ersten 30 Seiten fragte ich mich, ob das Weiterlesen im "Lob der Torheit" nicht eine erhebliche Zeitverschwendung sei. Immerhin hat das ursprünglich auf Latein verfasste Werk einen Umfang von 159 Seiten - zumindest in der Ausgabe des Anaconda Verlages. Das Schriftbild in Sepia auf Ökopapier ist nicht gerade Augen-freundlich.

30 Seiten Mythologie

Nach den ersten 30 Seiten hätte ich Erasmus von Rotterdam auch wegen seiner Ausführungen zum Weib als "Mario Barth der Reformationszeit" betitelt und das Buch beiseite gelegt. Ich wunderte mich über den sprachbegabten Mann aus dem Zentrum Innere Führung, der dieses Buch wohl im Original-Text gelesen und mir empfohlen hatte.

Obwohl Erasmus von Rotterdam Theologe war, quollen die ersten 30 Seiten über mit griechischer Mythologie. Gott oder Jesus wurden nicht erwähnt, obwohl Bibel und Apokryphen auch Bücher wie Prediger, Sprüche, Weisheit oder Sirach beinhalten.

Lob der Torheit - Erasmus von Rotterdam
Lob der Torheit - Erasmus von Rotterdam
Weiterlesen

Manch ein Buch entwickelt sich beim nochmaligen oder beharrlichen Lesen. Deshalb nahm ich das Buch mit zum Hausarzt. Wenn schon Zeitverschwendung, dann richtig. Im Wartezimmer las ich die nächsten 50 Seiten.

Das war sehr gut! Der Schreiber aus Rotterdam schwenkte nämlich plötzlich auf allgemeine Situationen und bekannte Personengruppen um. Das war auch etwas für Ungebildete - wie mich. Zumindest habe ich keinen Schein. Den muss ich bei Bedarf mit Aura ausgleichen. Mein Vater hätte die griechische Mythologie auswendig und im Urtext rezitieren können. Aber Altgriechisch ist so gar nicht meine Sprache.

Genuss

Die für die Torheit investierte Zeit im Wartezimmer war ein Genuss: Sprache, Satzbau und zielsichere Satire. Meine Reaktionen reichten vom stillen Schmunzeln, über breites Grinsen und entluden sich mehrfach im entzückten Auflachen. Die Mitpatienten lasen Yellow Press und Auto-BILD, während ich mich über die immer pointierter werdende Lektüre des Erasmus freute. Dann musste ich leider ins Behandlungszimmer.

Rundumschlag

Erasmus schont kaum eine gesellschaftliche Gruppe. Jeder bekommt sein Fett weg. Besonders intensiv beschäftigt er sich mit Wissenschaftlern, Kaufleuten, Fürsten, Rechtsgelehrten, Mönchen und seinen theologischen Kollegen.

Genüsslich seziert er die Zustände in der Lutherischen Kirche - pardon, ich meinte die Kirche zur Zeit Luthers, also um 1500. Diesen Zuständen verdanken wir unser 500. Reformations-Jubiläum. Erasmus selbst hatte sich jedoch von der Reformation distanziert und starb 1536 in Basel eines natürlichen Todes. Die Unabhängigkeit als Wissenschaftler war für ihn wichtiger, als Teil der Bewegung Luthers zu werden. Luther habe darauf sächsisch-rustikal reagiert.

Die spitzfindige Geißel, die Erasmus durch die letzten Seiten des Buches schwingt ist auch heute noch aktuell. "Ecclesia semper reformanda" heißt ja, dass sich die Gemeinde einem ständigen Erneuerungsprozess zu stellen hat. Das vor 500 Jahren verfasste "Lob der Torheit" zeigt, dass auch die zeitgenössische christliche Szene mit den parodierten Schemata harmoniert. Adrian Pless hätte es kaum besser ausdrücken können.

Narren-Freiheit in Lob verpackt

Da der Autor aus Sicht der Torheit schreibt, verzeiht man ihm die sämtlichen Frontalangriffe. Mit ungeschminkter Wahrheit prasseln sie auf den Leser ein - in Lob verpackt.

Rhetorisch geht Erasmus wie Paulus vor. Er beginnt allgemein und harmlos, holt den Leser in seiner Welt ab, filtert die Zielgruppen auf den ersten 30 Seiten aus und steigert die Ausführungen so exzellent, dass man das Buch erst beiseite legt, wenn es durchgelesen ist.

Im Abspann des Buches fühlt sich die schreibende Torheit so frei, dass sie aus meiner laienhaften Sicht etwas zu weit geht mit der Handhabung der Bibelverse, die im Lateinischen das Wort stultitia und im Deutschen das Wort Torheit beinhalten.

Generell wird so manch einem zart besaiteten Pastoralgehör der Gegenwart die grobe Sprache Luthers und seiner theologischen Zeitgenossen wie Erasmus als despektierlich (verachtend) erscheinen. Auch ich hatte einige Mühe, die durchaus trefflichen Formulierungen aus meinen Gedanken zu bekommen.

Freitag, 13. Oktober 2017

Ungläubiges Staunen von Navid Kermani

Das Sinnieren über Gemälde ist in Zeiten von YouTube und Instagram nicht mehr so populär. Navid Kermani hat sich mit verschiedenen christlichen Kunstwerken beschäftigt.


An einem der ersten Tage in der Reha-Klinik bekam ich das Buch "Ungläubiges Staunen - Über das Christentum" von Navid Kermani geschenkt. Also Navid Kermani ist der Autor und geschenkt hatten es mir die ersten Besucher. Das Buch war noch verschweißt und wurde auf der Rückseite vollmundig als "großes Geschenk für Christen und Nicht-Christen" (Martin Krumbholz, Bayerischer Rundfunk) angepriesen.

Navid Kermani Ungläubiges Staunen
Navid Kermani - Ungläubiges Staunen
Die Folie landete im Papierkorb - keine Mülltrennung. Sofort begann ich zu lesen. Dabei stellte ich fest, dass der Titel des Buches verfehlt ist. Das ist kein "Ungläubiges Staunen".

Bilder wirken lassen

Der Autor beschreibt die Szenen auf den mehrere hundert Jahre alten Bildern als scharfer Beobachter und entdeckt Details, die beim schnellen Vorbeihuschen durch den Touristen gar nicht bemerkt werden. Teilweise sitzt er mehrere Stunden in einem finsteren Raum, beleuchtet die Bilder mit seinem Handy oder gleicht die Aussagen im Katalog mit der Wirkung des Originals ab. Er geht vor und zurück und fixiert einzelne Bereiche der Oberfläche.

Besonders beeindruckt zeigt er sich von den Werken des Italieners Caravaggio (1573-1610), der mit ausdrucksstarken Personen und unkonventionellen Momentaufnahmen glänzte. Das verschaffte ihm dann wohl auch einigen Stress mit der sakralen Obrigkeit. Caravaggio wurde nur 37 Jahre alt.

So ist die Lektüre dieses Buches in weiten Teilen ein Genuss, so man sich denn für den tieferen Sinn von Kunst interessiert. Nur das Schriftbild sorgt für eine regelmäßige Ermüdung.

Unglaube, Freundschaft, Reiselust

Navid Kermani bezeichnet sich mehrfach als Moslem und betont, dass er im christlichen Sinne ungläubig sei. Das tiefe Verständnis für die Zusammenhänge der Botschaft vom Kreuz lassen jedoch erhebliche Zweifel an seiner Ungläubigkeit aufkommen.

Oft zitiert er Dialoge mit "dem katholischen Freund", beschäftigt sich mit Maria und Personen wie Hieronymus und Franz von Assisi. Zudem besucht er auch orthodoxe Kirchen und Klöster. Nebenbei saugt er die Atmosphäre in den Kirchen und Museen auf und beschreibt diese sehr plastisch.

Er ist viel unterwegs in Rom, in Syrien, im Kosovo und in Köln. Die Beschreibung der Kunstwerke unterlegt er mit Vergleichen zu islamischen Traditionen und Sichtweisen sowie fundiertem historischen Wissen. Die Bibel scheint er gut zu kennen, da er treffsicher daraus zitiert.

Bildbetrachtung im Schnelldurchlauf

Zum würdigen Abschluss der Reha ergab sich die Gelegenheit, den Bundespräsidenten nach Rom zu begleiten. Das Buch hatte ich im Gepäck und wollte vor Ort einige der Bilder auf mich wirken lassen. Dazu kam es allerdings nicht.

Wir sahen zwar die Vatikanischen Museen inklusive der Gruppe des Laokoon, der Stanzen des Raffael und der Sixtinischen Kapelle, aber alles im Schnelldurchlauf. Nach 73 Minuten fuhren wir weiter zur Basilica San Clemente. Das Buch von Navid Kermani hatte ich in Rom nicht ein einziges Mal geöffnet.

Samstag, 3. Juni 2017

Bibel durchlesen in 3 Tagen

Ein Tag für Mose und Geschichtsbücher, ein Tag für Psalmen und Propheten und ein Tag für das Neue Testament sind möglich: Die Bibel in Kurznachrichten. In der letzten Woche hatte ich es getestet.



"Und Gott chillte" lautet der Titel der "Bibel in Kurznachrichten". Die drei Exemplare, die wir im Bücherzelt auf dem #Kirchentag fanden, waren alle in Folie verschweißt. Wir ließen eines der Bücher auspacken und schauten hinein: Tatsächlich waren auf den 332 Seiten alle Kapitel der Bibel zu finden, nur eben deutlich komprimierter als im Original. Das diente als Kaufgrund.

1.000 Kurznachrichten-Schreiber

Auf der Rückfahrt mit der Tram las ich das Vorwort: Das Bibel-Projekt wurde beim #Kirchentag 2009 ins Leben gerufen. Dazu segmentierten die Ideengeber eine Lutherbibel in 3.906 Teile und fanden etwa 1.000 Freiwillige, die sich auf das Schreiben von 3.906 Kurznachrichten einließen. Eine Aktion mit hohem didaktischen Wert und eine Motivation auch über den zugewiesenen Text hinaus das Wort Gottes zu lesen.

Bibel in Kurznachrichetn - Und Gott chillte
Bibel in Kurznachrichten - "Und Gott chillte"
Ein jugendlicher Teilnehmer sagte, dass er evangelisch, aber nicht gläubig sei. Das zeigt, wie unterschiedlich die Hintergründe der Übersetzer auf Twitter-Deutsch waren.

140 Zeichen auf Lutherdeutsch und Jugendsprache

Der Titel lässt einen ähnlich flapsigen Stil wie bei der Volxbibel vermuten. Dem ist aber nicht so. Nur wenige Passagen sind in Jugendsprache verfasst, andere melodisch, Lutherdeutsch oder nüchtern.

Die starke Komprimierung auf 140 Zeichen je Abschnitt ermöglicht einen sehr schnellen Gesamteindruck über biblische Bücher und einzelne Kapitel. Das Lesen der Langversion der Bibel kann es jedoch nicht ersetzen. Das Buch stellt eine wertvolle Ergänzung zur Einprägung des Gesamtkontextes dar. Namenslisten werden auf Formulierungen zusammengefasst wie: "Der Mensch pflanzt sich fort, immer und immer wieder" (1. Mose 5).

Besonders ermutigend sind die Psalmen. Diese sind auf den Umfang von 150 Kalenderblättchen im A7-Format reduziert.

Zeitformen und Überarbeitungsbedarf

Es liegt in der Natur dieses besonderen Projektes, dass einige sachliche Schnitzer enthalten sind, die sich im Neuen Testament mehren. Hinzu kommt der ständige Wechsel der Zeitformen, was insbesondere beim Einlesen ins Alte Testament gewöhnungsbedürftig ist.

Eine Überarbeitung auf diese beiden Punkte würde der Twitter-Bibel einen professionellen Schliff geben und diese auch für Bibel-affine FEG-Mitglieder interessant machen. Theologie-Studenten sollten sie bereits jetzt in ihre Bibliothek aufnehmen.

3 Tage, 4 Wochen, 7 Monate

Selbst-Tests zum Timing des Bibellesens haben ergeben, dass eine Vollbibel wie die Elberfelder nicht unter 7 Monaten durchzulesen ist. Das Alte Testament in einer anderen Sprache benötigt auch mehr als 7 Monate. Den kürzesten Durchlauf beim Neuen Testament hatte ich bei 4 Wochen registriert. Vorausgesetzt, man versteht und beachtet noch, was man da liest.

Donnerstag, 11. Mai 2017

Presserecht betrifft auch Gemeinden

Presserecht geht nicht nur Presseleute etwas an. Auch Gemeinden veröffentlichen Galerien, Predigten und Informationen aus einer privaten Grauzone im Internet - oft ohne Abwägung möglicher Folgen.



Wie niedlich, wenn Max und Berta durch den Kinderraum krabbeln. Klick, das Foto für den Facebook-Kanal der Gemeinde ist im Kasten und kurz darauf schon hochgeladen. Ein Like kommt aus Amerika, einer von der Tante und die Gattin des Organisten teilt das Bild gleich noch auf Twitter. Der viralen Verbreitung steht nun nichts mehr im Wege.

Das Foto von Max und Berta Müller

Hier gibt es gleich mehrere Ansätze für juristische Konsequenzen: Es beginnt mit dem Recht am eigenen Bild. Max und Berta heißen mit Nachnamen zwar Müller, sind aber nicht mit dem Regierenden Bürgermeister Berlins verwandt. Deshalb stehen sie nicht als absolute oder relative Personen der Zeitgeschichte im Fokus der Öffentlichkeit. Auf dem Foto sind sie zentraler Punkt und deutlich erkennbar. Sie stellen also kein Beiwerk dar, etwa für die neue Plastik-Kinderküche mit Herd und Durchreiche oder zur Untermalung der Regalwände mit Godly-Play-Materialien.

Presserecht Michael Schmuck
Das neue Presserecht - Praxistipps für Journalisten - Michael Schmuck
 "Das neue Presserecht - Praxistipps für Journalisten" hatten wir bei einem Seminar der Evangelischen Allianz empfohlen bekommen.

Achtung! Das Buch ist schon wieder nicht fromm - aber nützlich.

Harter Lesestoff auf 211 Seiten

Der Autor, Michael Schmuck, ist Journalist und Anwalt. Auf heitere Weise versucht er dem Leser ein sehr trockenes Thema nahe zu bringen. Trotz all seiner Mühe brauchte ich drei Anläufe, bis ich die 211 Seiten endlich durchgelesen hatte. Zwischen den Anläufen lagen Wochen und Monate.

Sensibel werden für das Recht

Das Buch sensibilisiert für die Wahrung der Persönlichkeitsrechte fotografierter, zitierter und beschriebener Personen. Es geht auf die Meinungsfreiheit ein, beschäftigt sich mit Wahrheit und differenziert zwischen Vermutung, Verdacht, Tatsache und Gerücht.

Was darf zitiert werden? In welchem Umfang darf etwas zitiert werden? Welcher Name muss unter dem Artikel stehen? Wie sieht es mit der Kopie und dem "zu Eigen machen" fremder Inhalte aus? Alles Fragen, die das Buch ausführlich und mit Praxisbeispielen beantwortet. Wer sich eingehender mit einem Themenkomplex beschäftigen möchte, findet im Text die passenden Aktenzeichen zu den Gerichtsverhandlungen und Urteilen.

Auf der sicheren Seite ist im Prinzip jeder, der folgende Regeln beherzigt:
  1. Wahrheit
  2. keine Fotos von Privatpersonen
  3. keine Informationen aus dem Privatleben
  4. Wahrheit
Zum zweiten und dritten Punkt gibt es jede Menge Ausnahmen. Diese werden im Buch beschrieben. Zum ersten und vierten Punkt gibt es keine Ausnahmen. Es sei denn, es geht um einen Praxistest der Paragraphen 185 bis 187 des Strafgesetzbuches.

Widerruf und Streitereien

Das letzte Drittel des Buches informiert über die konkreten Folgen von Verstößen. Wie nutzt man den "Redaktionsschwanz", wie funktionieren eine Klarstellung, eine Distanzierung oder ein Widerruf. Die Sorry-Kasse der Redaktionen wird nur am Rande erwähnt. Diese steht für eventuelle Übertretungen des Gesetzes zur Verfügung. Weil Paparazzi und deren Verlage in Deutschland neuerdings zu empfindlichen Geldstrafen verurteilt werden, sind diese Kassen inzwischen leer und Paparazzi kaum noch unterwegs.

Apropos Geldstrafen: Im Gegensatz zum Schadenersatz, der sich auf klar zu beziffernden Sachschaden bezieht, gibt es noch das Schmerzensgeld. Bei Max und Berta Müller käme wohl letzteres zum Tragen.

Montag, 8. Mai 2017

12 Silben verkraftet der Leser

"Deutsch fürs Leben" ist ein Buch, das für einen Schreibstil sensibilisiert, der tatsächlich von Lesern gelesen wird: Schreiben für den Leser.



Hart ist die Erkenntnis eigener Defizite: Nach dem Lesen der 202 Seiten "Deutsch fürs Leben - Was die Schule zu Lehren vergaß" war ich die jüngsten Artikel in diesem Blog durchgegangen, hatte Sätze gekürzt und Passagen gestrichen. Schlimm, was ich den Lesern bisher zugemutet hatte.

Auch mit Ironie räumt Wolf Schneider, der Autor des Buches, auf. Kaum jemand verstehe Ironie und könne diese korrekt einordnen. Außer sie ist so überzeichnet, dass auch der humorloseste Leser diese sofort erkennt. Schade!

Deutsch fürs Leben Wolf Schneider
Deutsch fürs Leben - Wolf Schneider

Einen Teil des Buches hatte ich gelesen, als wir zwei Stunden bei "THE HAUS" anstanden. Die Textbeispiele und Pointen waren so gut, dass ich immer an den falschen Stellen gelacht hatte. Das heißt, ich lachte über das Gelesene, während meine Familie immer dann lachte, wenn es vor THE HAUS eine witzige Situation gab. Dazu gehörten die ständigen Nachfragen von Passanten, warum wir denn hier anstehen?

Wolf Schneider ist bei Journalisten geliebt und gefürchtet. Zwei Journalisten hatten mir dieses Buch empfohlen und glaubhaft versichert, dass sie die Erkenntnisse daraus mit Erfolg anwenden.

Schreiben für den Leser

Der Autor stellt 50 Regeln auf. Alle haben ein Ziel: Das Geschriebene soll auch gelesen werden, idealerweise sogar bis zum Ende des Textes. Die Regeln sind mit Positiv- und Negativbeispielen untermauert. Dadurch kann der Leser den Lehrstoff mundgerecht in sich aufnehmen. Der didaktische Wert des Buches ist nicht zu übersehen.

Immer wieder wird auf die Menge der Wörter und die Menge der Silben verwiesen. Das Kurzzeitgedächtnis eines durchschnittlichen Lesers könne nur 12 Silben erfassen. Bei kurzen Sätzen mit einsilbigen Wörtern könne die Information am kraftvollsten transportiert werden. Eine sehr gute Orientierungshilfe gebe die Bibel mit ihren kurzen und klaren Aussagen. Bei Zitaten aus den großen Tageszeitungen ist dem Autor jedoch eine Genugtuung beim Sezieren der endlosen Satzgebilde nachzuempfinden.

Nachdem ich mich von der ersten Schreibstarre erholt habe, werde ich das Gelernte wohl konsequent anwenden. Ich hatte mich ja auch so schon öfter gefreut, wenn völlig unbekannte Leser dieses Blogs bei einer persönlichen Begegnung ganze Sätze daraus zitieren konnten.

Samstag, 6. Mai 2017

Sohn Jonas interviewt Heinrich Bedford-Strohm

Heinrich Bedford-Strohm ist Ratsvorsitzender der EKD und auch im Rahmen des bevorstehenden Kirchentages immer wieder im Gespräch. Seine Persönlichkeit und theologischen Ansichten werden in einem etwa 200-seitigen Interview transparent.



Heinrich Bedford-Strohm hatten einige meiner Gesprächspartner erst zum Jahreswechsel wahrgenommen: Spiegel-Online hatte ihn bezüglich einer Dienstreise in die öffentliche Diskussion gebracht. Anschließend tauchte er im Zusammenhang mit Dynamissio und dem Kirchentag auf. Er ist bayerischer Landesbischof und Ratsvorsitzender der EKD.

Heinrich Bedford-Strohm?

Um die Ansichten des Mannes aus dem Süden kennen zu lernen, bestellte ich das Buch "Wer's glaubt, wird selig". Darin führt Sohn Jonas ein Interview mit seinem Vater Heinrich.

Titel und Umschlaggestaltung lassen auf ein Mittel zur Insomnie-Behandlung schließen. Dennoch kann man die 192 Seiten flüssig in etwa acht Stunden durchlesen und lernt die beiden Autoren kennen. Der Frage-Antwort-Stil lockert den Inhalt auf. Dadurch sind Lesepausen jederzeit möglich.

Das Buch ist in acht Schwerpunkte unterteilt. Neben Glück, Spiritualität, Religionen und Tod werden auch die Basics Gott, Jesus, Bibel und Kirche behandelt.

Jonas und Heinrich Bedford-Strohm
Jonas & Heinrich Bedford-Strohm - Sohn interviewt Vater


Offen und ehrlich

Das Gespräch zwischen den Generationen wird offen, ehrlich und gelegentlich etwas provokativ geführt. Die Argumentationslinien sind schlüssig und vermitteln ein umfangreiches Bild über die Theologie des Vaters und die Lernziele des Sohnes. Der Leser erfährt, dass der Sohn durch einen längeren Aufenthalt in Südafrika geprägt wurde und der Vater als Doktor der Theologie schnell und kompetent auf kritische Themen antworten kann.

Glauben und Theologie

Ein Großteil der Amazon-Rezensenten bescheinigt dem Buch einen Mehrwert in Glaubensfragen. Es gibt aber auch Stimmen, die die Ansichten des EKD-Chefs als überholt einstufen. Für mich brachte das Buch keine neuen theologischen Erkenntnisse.

Die Jungfrauengeburt und den Schöpfungsbericht bewertet der Landesbischof durch eine historisch kritische Brille. An der Auferstehung von Jesus zweifelt er nicht. An vielen Stellen des Buches wird deutlich, dass er eine aktive Beziehung zu Jesus pflegt, regelmäßig betet und sich durch die Bibel korrigieren lässt. Das stellt einen gewissen Spagat zwischen moderner Theologie und Anspruch des Wortes Gottes dar. Er kann damit offensichtlich gut umgehen und ruht faktisch in seinem christlichen Glauben.

Bibel und Interessenten

Auch wenn der Ratsvorsitzende zum Bibelstudium die Verwendung mehrerer Übersetzungen oder gar des Urtextes rät, legt er die Latte sehr tief an. Es schimmert durch, dass er die Mitglieder seiner Kirche eher auf dem Niveau der Kinderbibel sieht. Er empfiehlt zunächst ein Vorlesen der bunten Light-Versionen im Beisein der lieben Kleinen. Wer mehr über die Bibel lernen wolle, könne Theologie studieren. So habe er es gemacht und auch sein Sohn.

Wegen der finanziellen Ausstattung der EKD sei es nicht dramatisch, dass immer weniger Zuhörer im Gottesdienst sitzen. Es gingen nach wie vor mehr Menschen am Sonntag in die Kirche als ins Fußball-Stadion. Die mediale Berichterstattung verfälsche dabei die Wahrnehmung. An der Gottesdienstform sei nicht zu rütteln. Kirchenferne Interessenten sollten sich auf die traditionellen Formen einstellen und im Laufe der Zeit von selbst deren Wert erkennen.

Armut und Dienstwagen

Vater Heinrich ist ein begeisterter Anhänger von Wertschätzung, Dialog und Gewaltlosigkeit. Auch gesellschaftlich benachteiligte Menschen oder Armut stehen in seinem Fokus. Das stützt er auf das Doppelgebot der Liebe zu Gott und den Mitmenschen.

Bei Kirchensteuer und Dienstwagen bohrt der Sohn nach. Beides beantwortet sein Vater ausführlich. Ob ein BMW 5er aus dem 200-PS-Segment als "dicke Limousine" zu bezeichnen ist, sei mal dahingestellt. Immerhin freut sich der bayerische Würdenträger daran, dass er einen Arbeitsplatz für den Fahrer schaffen und selbst effektiv die Reisezeit nutzen könne. In regelmäßigen Bewertungen kirchlicher Amtsfahrzeuge schneidet Bedford-Strohm seit mehreren Jahren als ökologisches Vorbild ab.

Zu Macht und deren Missbrauch werden im Buch vorrangig Beispiele aus Südafrika, der NS-Zeit oder der christlichen Mission gebracht. Die evangelische Kirche stehe heute im aktiven Gespräch mit ihren Mitarbeitern und Mitgliedern. Missstände gehe man schnell und auf Konsens orientiert an. Eine ermutigende Aussage, deren Umsetzung wir an dieser Stelle nicht evaluieren können.

Islam und Homophobie

Einige Themen scheinen Jonas besonders wichtig zu sein. Dabei verwandelt er seine Position als Fragesteller schon fast in die eines Ko-Referenten. Sehr emotional wird er bei Homophobie, Islamkritik und christlichem Fundamentalismus. Dem Grundtenor des Buches folgend ist damit wohl das freikirchliche Parallel-Universum gemeint.

Homosexualität müsse laut Vater Heinrich im historischen Kontext bewertet werden. Dieser sei heute nicht mehr gegeben.

Der von Wertschätzung geprägte Gedankenaustausch mit dem Islam ändere nichts am christlichen Selbstwertgefühl des Landesbischofs. Beim Lesen des Korans habe er nach den ersten Suren den Eindruck gewonnen, "das Werk eines Propheten zu lesen". Er formuliert Absichtserklärungen zum Diskurs mit islamischen Wissenschaftlern und Imamen. Auf diesem Wege sollten "die gewaltfreien Traditionen des Korans wiederentdeckt werden". Ein sportliches Ziel, das eine historisch kritische Herangehensweise an eine Religion voraussetzt, die keine Epoche der Aufklärung durchlaufen hatte.

Glück und Segen

Beachtlich fand ich das Kapitel über Glück. Darin nähert sich Bedford-Strohm von einer sehr persönlichen Seite der Standardfrage an: "Warum lässt Gott das Leid zu?" Er hat wohl Römer 8 Vers 28 verinnerlicht und trägt die schweren Situationen des Lebens in der Kraft seiner Beziehung zu Jesus. Auch das Kapitel über Tod offenbart eine hohe seelsorgerliche Empathie und einen liebevollen Umgang mit Menschen, die in Lebenskrisen Hilfe bei ihm suchen.

Stilistisch gelungen fand ich den Ausklang des Buches, wo der Vater dem Sohn, die einzelnen Verse des Vaterunsers erklärt und dann das Buch mit "Amen" und einem kurzen Nachwort beschließt.

Mittwoch, 19. April 2017

Handbuch für die gefährlichsten Orte der Welt

Unbewaffnet in Krisenregionen unterwegs zu sein, erfordert alternative Methoden zum Überleben. Das hier vorgestellte Handbuch vermittelt auf kurzweilige Weise das notwendige Wissen.



Achtung! Wer die Rezension eines frommen Buches erwartet, sollte: Nicht weiterlesen!
Alternativ können hier Rezensionen über fromme Literatur abgerufen werden.


Handbuch für die gefährlichsten Orte der Welt
Handbuch für die gefährlichsten Orte der Welt - Rosie Garthwaite - 2011


Das "Handbuch für die gefährlichsten Orte der Welt" ist eines der witzigsten Handbücher, die ich je gelesen habe und stellt sogar die IT-Handbücher von O'Reilly in den Schatten. Es geht so ziemlich auf alle Situationen in Ländern mit aktiven oder jüngeren Kriegshandlungen ein und bewegt sich mit seinen Praxisbeispielen vorwiegend im Nahen und Mittleren Osten. Das liegt wohl daran, dass die Autorin eine blonde Britin ist, die als Journalistin in dieser Region arbeitet.

Training und Realität

Das Handbuch deckt sich weitestgehend mit den per Trial & Error durchlebten Lehrgangseinheiten des HEAT-Programms (Hostile Environment Awareness Training) am Vereinte Nationen Ausbildungszentrum der Bundeswehr. Nur dass die Beispiele im Buch aus echten Situationen stammen und nicht im Rollenspiel nachgestellt wurden.

Immer mehr Presseagenturen, international tätige Firmen und Hilfsorganisationen entdecken die Vorzüge einer praktischen Vorbereitung ihrer Mitarbeiter auf den Einsatz in Krisenregionen. Wie oben kurz angedeutet, fliegen gerade Mitarbeiter von Hilfsorganisationen mit dem Gedanken "Mir passiert sowas nicht" in destabilisierte Regionen und wundern sich dann, wenn ihnen die Geschosse um die Ohren fliegen, das Bein nach einem Tritt auf eine kleine bunte Mine ab ist oder ihre Hilfsorganisation die Spendengelder des Vorjahres als Lösegeld auf den provisorischen Tisch einer subtropischen Laubhütte legen muss.

Trockener Humor

Mit trockenem britischen Humor vermittelt die Autorin wichtige Kenntnisse im Umgang mit drohendem Kidnapping, Bespitzelung, Missverständnissen bei der Nutzung der Kamera, Wahl der Unterkunft, Fahrten durch die Stadt, Verhalten an Check Points oder dem Verhalten in Minenfeldern.

Erste Hilfe

Etwa hundert Seiten widmen sich der Ersten Hilfe. So kurzweilig und einprägsam hatte ich noch nie etwas über Erste Hilfe gelernt. Nun weiß ich, wie sich Erfrierungen äußern, wie man eine Wunde näht oder Gliedmaßen amputiert und was in die Notfall-Tasche gehört. Auch die stabile Seitenlage wird wiederholt und in Episoden aus dem journalistischen Alltag eingebettet. Da das Handbuch den Anspruch auf ein Nachschlagewerk erhebt, sind die Gesundheitsthemen nach Alphabet sortiert.

Ferner werden Trauma-Prävention und -Nachsorge, Sport auf engstem Raum mithilfe des Eigengewichtes, kleine Tricks der Selbstverteidigung, beherztes Agieren bei Vergewaltigung, die Wahl von Bodyguards, Fahrern oder Dolmetschern, die Wahl der Kleidung, das Entsichern einer Schusswaffe, die Wert-Zeit-Kurve einer Geisel und die zweckentfremdete Nutzung von Alltagsgegenständen thematisiert.

Expertise

Es kommen viele Pressekollegen der Autorin Rosie Garthwaite zu Wort. Einige Passagen des Buches wurden von Fachleuten geschrieben oder durch deren Expertise in die finale Form gegossen. Nach dem Lesen war ich erstaunt, wie viele Aspekte es bei solch einem Auslandsaufenthalt zu beachten gibt und dass scheinbar nichts davon im Handbuch fehlt.

Auf dem deutschen Markt gibt es viele aus dem Englischen übersetzte Bücher, die lieber im Original gelesen werden sollten. Bei diesem Handbuch mit dem als Lesezeichen dienenden schwarzen Gummiband ist Bernhard Kleinschmidt ein großartiger Wurf bei der Übersetzung gelungen.

Ernst der Lage

Im letzten Fünftel des etwa 300 Seiten starken Buches wird es ernst. Der bisherige Humor weicht einer ehrlichen Betroffenheit, wenn über Länder wie Nordkorea und Myanmar oder posttraumatische Verhaltensweisen berichtet wird. Der Reisende solle sich auf sämtliche Alltagsgegenstände wie Notizbücher, Spiegel, Medizinbeutel oder die Zahnbürste den Grund für die Anwesenheit in der jeweiligen Region schreiben. Ist der ursprüngliche Grund nicht mehr gegeben, oder werde man fremdbestimmt, ist ein geeigneter Zeitpunkt für die hoffentlich vorab geplante Rückreise gekommen.

Dienstag, 11. April 2017

Focusing mit Geist, Seele und Leib

Verkopfter Glaube ist eine durchaus übliche Erscheinungsform. Wenn der Psalmist von "Alles was in mir ist" redet, meint er deutlich mehr als die obere Etage unseres Körpers.



Wer wissen möchte, mit welchen Werkzeugen ein Trauma-Therapeut hantiert, sollte das Buch "Wie der Glaube zum Körper findet" von Peter Lincoln lesen. Es hat 138 Seiten und enthält eine CD für praktische Übungen.

Focusing

Es geht darin um das sogenannte Focusing, das bewusste Wahrnehmen körperlicher Reize wie der Berührung des Rückens mit der Sitzfläche, dem Nachspüren der Fußsohlen auf dem Boden oder die Beachtung der Atmung. Sobald sich der fokussierte Leser dieser Reize bewusst wird, kann er weiter in sich hinein hören, bestimmte Bereiche entspannen und körperliche Reaktionen steuern.

Focusing - Wie der Glaube zum Körper findet
Focusing - "Wie der Glaube zum Körper findet" von Peter Lincoln
Peter Lincoln bringt diverse Bibelstellen, die die Ganzheit des Menschen als Wesen aus Geist, Seele und Leib darstellen und für eine Beachtung des "Tempels des Heiligen Geistes", nämlich des Körpers, sensibilisieren.

Hilfreiche Techniken

Das Buch hatte mir die Trauma-Beraterin Maike Behn empfohlen. Hätte ich sie nicht persönlich gekannt, hätte ich das Buch wohl nie gelesen und als Literatur für einschlägige Personengruppen aus den Cityregionen Berlins eingeordnet. Jedoch bei unserer Kur im letzten Sommer und bei FBG-Gebetsabenden hatte ich die progressive Muskelentspannung nach Jacobsen und einige Atemtechniken erlernt, die sich in Stresssituationen bereits als sehr hilfreich erwiesen haben.

Überleben

Beim Journalistenlehrgang in der letzten Woche hatte ich erleben dürfen, dass Jacobsen und Atemtechnik die Überlebensstrategien Nummer Eins bei komplexen Bedrohungssituationen wie Überfall, Beschuss oder Geiselhaft sind. Sobald der gesamte Mensch in der Tiefenentspannung ist, können rationale Gedanken gefasst und nach Auswegen aus der aktuelle Situation geschaut werden. Manch ein Geschehen kommt gar nicht erst nah an einen heran und kann sofort distanziert behandelt werden.

Beziehung zu Jesus

Aber auch außerhalb akuter Stressszenarien kann ein zur Ruhe kommen sehr gut die Kommunikation mit Gott anregen. In "Class 201" von Saddleback wird ein Leitfaden für die Stille Zeit vermittelt. Der erste Punkt heißt "Relax". Dann geht es mit Bibellesen und Reflexion weiter. Es geht um eine aktive und lebendige Beziehung zu Jesus mit unserem ganzen Sein. Eine verkopfte Wissensbeziehung stößt schnell an die Grenzen.

Trigger und Heilung

Ich hatte mich auf einige Übungen aus dem Buch eingelassen und erstaunliche Entdeckungen gemacht. Triggerpunkte aus der Vergangenheit, vielleicht sogar schon vierzig Jahre zurück, wurden plötzlich sichtbar und konnten bewusst an Gott abgegeben werden. Das Ergebnis ist ein kontinuierlicher innerer Heilungs- und Stabilisierungsprozess, der auch in zukünftigen Begebenheiten zum Tragen kommen kann.

Dienstag, 7. März 2017

Rennst du noch oder lebst du schon?

Wenn ich einen bestimmten Terminus innerhalb der Familie verwende, denken alle sofort an ein skandinavisches Möbelhaus in unserer Nähe. Birgit Sych hat deren Werbeslogan als treffenden Titel für ein Buch über Zeit umformuliert.



Die eine Kundenrezension bei Amazon mit nur zwei Sternen deutet auf das Buch einer gelangweilten Hausfrau für gelangweilte Hausfrauen hin. Davon muss es in Deutschland sehr viele geben, da das Buch "Rennst du noch oder lebst du schon?" seit 2005 bereits in der siebten Auflage erschienen ist.

Rennst du noch oder lebst du schon - Birgit Sych
Die siebzig Seiten über Zeit und den sinnvollen Umgang damit sind leichte Kost, die in relativ kurzer Zeit aufgenommen und verdaut werden kann. Das Buch eignet sich gut zur Vorbereitung von Andachten und gibt Denkanstöße für verschiedene Lebenssituationen.

Birgit Sych geht auf die unterschiedliche Handhabung der Zeit in unterschiedlichen gesellschaftlichen und ethnischen Kontexten ein, arbeitet ein klares Wohlstandsgefälle bei Be- und Entschleunigung heraus und redet über den Wert von Pausen.

Als Eheberaterin bringt sie viele Beispiele aus dem eigenen Familienalltag ein. Die Powerfrau im Lehramt rast selbst wie aufgedreht durch das Leben und kann ein Ausbremsen nur schwer ertragen. Von ihrem Mann wird sie deshalb liebevoll als "Stressperle" bezeichnet. Er trägt es mit Ruhe und Fassung. Die Autorin steht also selbst in der ständigen Herausforderung, ihren Tagesablauf zu entschleunigen und Momente des Innehaltens zu genießen.

Sie gibt Tipps für den Umgang mit Telefonanrufen während des Abendbrotes, redet über das Delegieren von Aufgaben, über Multitasking und das unpopuläre Nein-Sagen.

Interessant fand ich den deutlichen Vergleich von Zeit und Geld. Zeit könne man verschwenden, gewinnen, sparen, verlieren oder verschenken. Für das Lesen des Buches hatte ich in Summe etwa zwei Stunden investiert.

Donnerstag, 2. März 2017

Neid mit Risiken und Nebenwirkungen

Neid ist ein Gefühl, welches erhebliche Risiken und Nebenwirkungen mit sich bringt. Birgit Sych widmet sich auf den knapp sechzig Seiten ihres Buches "NEID" diesem Tabuthema.



Mit Birgit Sych haben wir verschiedene Berührungspunkte, zu denen unter anderem der Ehekurs "Gemeinsam e1ns" gehört. Eher beiläufig kamen wir in einem WhatsApp-Chat auf das Thema Neid zu sprechen und sie erwähnte ebenfalls eher beiläufig, dass sie dazu ein Buch geschrieben habe. Darauf sandte sie mir eines ihrer Exemplare zu und ich verschlang es innerhalb von 90 Minuten.

NEID - zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Herz und Seele - Birgit Sych
"NEID - zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Herz und Seele" - Birgit Sych
Die 61 Seiten sind sehr mundgerecht geschrieben. Man hat fast den Eindruck, Birgit Sych sitze neben einem und erzähle den Text. Keine hochwissenschaftlichen Ausführungen sondern klare, einfach verständliche Worte mit viel Witz und Beispielen aus dem persönlichen Erleben.

Die geschilderten Alltagssituationen treffen wohl den allgemeinen Erfahrungshorizont. Es geht um die verschiedenen Facetten des Neides auf Besitz, Anerkennung, Aussehen oder Erfolg einer Bezugsperson. Es geht um dessen Reaktion auf den Neid und um die zerstörerische Wirkung auf den Neider selbst. In der Mitte des Buches wird es biblisch: Kain und Abel als klassische und initiale Neidbeziehung mit unappetitlichem Ausgang. Danach ein Zitat von Ovid, dessen scharfe und treffende Formulierung den Neid in seiner ganzen Einsamkeit und leblosen Blässe seziert.

Als gute Seelsorgerin und Beraterin finalisiert die Autorin das Buch mit mehreren Lösungswegen zum Ausstieg aus der Neidfalle. Auch in diesem Abschnitt kommen eigene Beispiele zum Tragen, die die Machbarkeit des Auswegs und die Authentizität der Schreiberin untermauern.

"NEID - zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Herz und Seele" wurde bereits 2004 veröffentlicht und ist inzwischen vergriffen. Eine Neuauflage ist leider zurzeit nicht geplant, so dass bei Bedarf auf ein gebrauchtes Exemplar zurückgegriffen werden muss. Das finde ich sehr schade, da das Buch leicht und schnell zu lesen ist und wertvolle Denkanstöße und Handlungsempfehlungen enthält.

Freitag, 20. Januar 2017

Harald Sommerfeld mit Gott in der Stadt unterwegs

Harald Sommerfeld ist ein Freund der urbanen Transformation, der wachen Auges durch Berlin fährt und das umsetzt, was Bill Hybels kürzlich auf einer Konferenz postulierte: "See it. Smell it. Touch it".



Der Tag der offenen Tür bei Gemeinsam für Berlin hatte bereits um 13:00 Uhr in der Kastanienallee begonnen. Per WhatsApp erfuhr ich, wer gerade welchen Programmpunkt moderierte und welche Projekte sonst noch vorgestellt werden. Gegen 18:00 Uhr konnte ich noch sehr spontan unsere Freunde aus Marzahn zu einer gemeinsamen Fahrt nach Prenzlberg gewinnen, so dass wir schließlich zu dritt dort auftauchten.

Man traf sich im Untergeschoss, das normalerweise von der Heilsarmee genutzt wird und bisher kein Teil meines Erfahrungshorizontes war. Mit Gemeinsam für Berlin verbindet mich eine lange Beziehung, die bis in die Gründungszeit dieses urbanen Netzwerkes reicht. Neben zwei sehr aktiven Damen ist der Theologe Harald Sommerfeld erklärtermaßen gleichberechtigtes Vorstandsmitglied des Gemeinsam für Berlin e.V.

Multimediale Lesung

Für den Abend war eine Vorstellung seines Buches "Mit Gott in der Stadt" geplant. Dieses Buch war mir bereits im Oktober empfohlen worden, wobei mich die 700 Seiten abgeschreckt hatten. Im Januar erfolgte eine weitere Empfehlung und immer lag die dicke Schwarte im weißen Paperback demonstrativ vor mir auf dem Tisch. Soll ich, oder soll ich nicht?

Harald Sommerfeld - Mit Gott in der Stadt
Harald Sommerfeld - Mit Gott in der Stadt
Das Buch wurde als die am besten wissenschaftlich fundierte Veröffentlichung zur urbanen Transformation in deutscher Sprache angepriesen. OK: 700 Seiten, wissenschaftlich fundiert - klingt nach sehr trockener Lektüre. Ich dachte an 789 Seiten Neues Testament in Altgriechisch, wofür ich ganze drei Monate gebraucht hatte. Zwischen den beiden Empfehlungen hatte ich noch "A Disruptive Gospel" von Mac Pier verschlungen und sah damit den Bedarf an urbaner Transformationsliteratur als gestillt an. Deshalb war ich gespannt auf die heutige multimediale Lesung.

Brennpunkt Großstadt

Es begann mit einem Video des Pentagon, worin die Entwicklung der Weltmetropolen inklusive der bereits vorhandenen oder erwarteten Herausforderungen beschrieben wurde In Zeitschriften, die sich an eine militärische Zielgruppe wenden, ist regelmäßig von verstärkten Trainingsaktivitäten im städtischen Umfeld zu lesen. Es werden ganze Kleinstädte zu Übungszwecken gebaut, wo einheimische und Partnerstreitkräfte den "Gangbarkeitsmodus: zerstört" testen können.

Die fragmentierten und asymmetrisch agierenden Gruppen innerhalb der Metropolen sind in ihrer ethnischen, sozialen und religiösen Vielfalt kaum noch zu überblicken, geschweige denn verlässlich zu steuern. Die Sicherheitsorgane müssen sich entscheiden, ob sie "reingehen" oder sich "raushalten". Anders die Gemeinde mit ihrem Auftrag für die Stadt.

Harald Sommerfeld - Mit Gott in der Stadt
Harald Sommerfeld - Mit Gott in der Stadt - Multimediale Lesung bei Gemeinsam für Berlin
Die Oma erwacht

Harald Sommerfeld begann tatsächlich mit den ersten Seiten des Buches, wo er so gar nicht wissenschaftlich verstaubt eine ältere Dame zu Wort kommen lässt, die mal eben fünfzig Jahre "verschlafen" hatte und nun in einer ganz anderen Welt aufwacht. Eine damals lebendige Gemeinde in einem Problemkiez war inzwischen zu einer gut situierten Gemeinde mit gepflegtem Gebäude im Kiez ohne tatsächlichen Kiezbezug geworden. Die Mitglieder lebten längst am Stadtrand und fuhren nur noch zum Gottesdienst "rein". Und natürlich war man missionarisch. Das Missions-Ehepaar in Südostasien wurde finanziell unterstützt. Eine interessante Schilderung, die wahrscheinlich rein fiktiv war und nur zufällig mit Erfahrungen aus der Berliner Gründungsszene kongruiert.

M29 und das Schamgefühl

Besonders bewegend war die Videobusfahrt mit der Linie M29. Diese transportiert die Fahrgäste quer durch Berlin und kommt dabei durch sehr unterschiedliche Wohngegenden. Einkommen, Mietniveau, ethnische Zuordnung, Beschäftigungsquote und Bezuschussungsbedarf wechseln beständig und teilweise diametral im Bereich weniger Meter.

In diesem Zusammenhang sei noch ein sehr interessantes Kapitel zum Thema Scham erwähnt. Dem Abendland wird ja immer nachgesagt, dass es sich im Gegensatz zur Schamkultur des Orients in einer Schuldkultur bewege. Das Buch macht deutlich, dass geringes Einkommen, falsche Kleidung, niedriger Bildungsstand und ähnliche Eckdaten auch bei Deutschen zu Scham, gesellschaftlichem Rückzug und Aggressivität führen.

Bewusster Umzug

Harald Sommerfeld berichtete von sehr guten Erfahrungen mit dem bewussten Zuzug von Christen in Problembezirke. Wichtig sei es jedoch, dass eventuell vorhandene Ortsgemeinden dafür offen seien. In der Regel entwickelt sich das Umfeld durch den Einfluss der ambitionierten Gruppe so positiv, dass soziale Hilfeleistungen entbehrlich werden, das Bildungspotenzial steigt und sich das allgemeine Klima spürbar entspannt darstellt. Eine Situation, die auch in New York zu beobachten ist und die wir um die Jahrtausendwende in Marzahn erlebt hatten.

Wenn Christen in herausfordernde Gebiete ziehen, habe das auch einen großen Einfluss auf die Sozialkompetenz der begleitenden Kinder, wie Harald Sommerfeld aus seinem eigenen familiären Hintergrund einbringen konnte. Er selbst feiere inzwischen keine Geburtstage mehr mit wohlhabenden Freunden, sondern mit Menschen aus der Nachbarschaft, von denen nach biblischer Vorgabe keine Gegeneinladung zu erwarten sei.

Harald Sommerfeld - Mit Gott in der Stadt
Harald Sommerfeld - Mit Gott in der Stadt - Multimediale Lesung bei Gemeinsam für Berlin
Copy & Paste

Die multimediale Lesung wechselte zwischen Videos, Fotos und Musikstücken. Sogar eine Choreografie war dabei. Anhand der gelesenen Auszüge ist das Buch wohl doch nicht so trocken, wie ursprünglich erwartet. Es scheint sogar sehr praxisnah zu sein und regt zum Nach- und Weiterdenken an. Im Endeffekt muss das vermittelte Wissen auf die jeweilige Kiez-Situation adaptiert und flexibel nachjustiert werden. Urbane Transformation, auf Deutsch Klimaveränderung, kann nicht 1:1 aus anderen Projekten kopiert werden, sondern muss sich an die jeweiligen Gegebenheiten anpassen.

Der direkte Draht zu Gott

Ohne den direkten Draht zu Gott funktioniert das ohnehin nicht. Deshalb werden am Ende des Buches mehrere Bibelstellen zitiert. Harald beendete den Abend mit dem iterativ vorgetragenen Lied "Veni, Sancte Spiritus" - "Komm, Heiliger Geist".