Donnerstag, 2. Juni 2022

Der Schrei der Wildgänse

Mit einem Abstand von sieben Jahren habe ich das Buch "Der Schrei der Wildgänse" noch einmal gelesen. Es ist schon interessant, wie Bücher - gelesen zur richtigen Zeit - ihre ganz besondere Wirkung erzielen können.

Beim ersten Lesen des Buches "Der Schrei der Wildgänse" von Wayne Jacobsen und Dave Coleman waren wir gerade in der Phase, unsere über 20 Jahre hinweg aufgebaute und begleitete Gemeinde zu verlassen, da wir dort nicht mehr erwünscht waren. Das Buch spiegelte unsere Situation wider, wobei wir so viele Baustellen gleichzeitig zu bearbeiten hatten, dass viele der wertvollen Impulse einfach untergingen. Das Buch machte damals die Runde unter den Ehepaaren, die ebenfalls nicht mehr erwünscht waren, weil auch sie es gewagt hatten, den Pastor zu hinterfragen.

"Der Schrei der Wildgänse" von Wayne Jacobsen und Dave Coleman
"Der Schrei der Wildgänse" von Wayne Jacobsen und Dave Coleman - Foto: Pazifikküste Costa Rica


Zwischenzeitlich hat sich einiges bei uns getan. Wir haben viele andere Gemeinden kennengelernt: gesunde und weniger gesunde. Wir haben uns für fünf Jahre in einer internationalen Gemeinde eingebracht, neue Aufgabenfelder ausprobiert und interessante Menschen kennengelernt, die ihre Beziehung zu Jesus bauen. Und genau an diesem Punkt setzt das Buch an:

Der Protagonist, Jake, ist im Hamsterrad des Gemeindelebens gefangen. Er findet das zwar normal und richtig, ist aber sehr unzufrieden. Dann begegnet ihm John, ein geheimnisvoller, aber beeindruckender Typ, von dem bis zum Ende des Buches nicht klar wird, ob es sich um den Johannes aus der Bibel handelt. Das spielt letztlich aber auch keine Rolle, da es im Kern um die Auflösung des Konfliktes zwischen institutioneller Betriebsamkeit und tatsächlicher christlicher Gemeinschaft mit Fokus auf die Beziehung zu Jesus geht.

Immer wieder fallen Jake und seine Weggefährten in alte Muster zurück und können sich nur schwerlich von gewohnten Ritualen und Organisationsstrukturen lösen. Das beginnt bei der manipulativen Sprache, der gegenseitigen moralischen Kontrolle und endet bei der liturgischen Form privater Treffen im Wohnzimmer. In den geschilderten Situationen findet sich wohl jedes langjährige Gemeindemitglied wieder.

Die Autoren fordern dazu auf, über den Tellerrand hinaus zu denken. Das Reich Gottes nicht nur als die Ortsgemeinde zu sehen, sondern als einen dynamischen Körper von Menschen, die eine tiefe Beziehung zu Jesus suchen. So kann es Gemeinde auch auf der Parkbank, dem Parkplatz, dem Wanderweg, dem Restaurant oder dem Garten hinter dem Haus geben. So kommen die Wildgänse aus dem Titel auch erst im vorletzten Kapitel vor: Jake ist nach etwa vier Jahren schon so gereift, dass er anderen seine neuen Erkenntnisse und Erfahrungen weitergibt. Dann ziehen mehrere Gruppen von Wildgänsen über die Szene hinweg. Dabei wechseln die Vögel auch die Position in der V-Formation. Es sind mehrere Gruppen, die aber alle ein Ziel haben und sich letztlich an genau diesem Ziel treffen.

Auch wir haben sieben weitere Jahre an Erfahrungen gesammelt, so dass uns das Buch genau jetzt ganz neu erfrischt hat.