Auch in diesem Jahr gibt es wieder viele Geburtstage. Heute feierte Aktion Sühnezeichen sein 60. Jubiläum. Ich besuchte dazu den Gottesdienst in der Französischen Friedrichstadtkirche.
So früh war ich wohl noch nie zum Gottesdienst erschienen: 60 Minuten vor Beginn. Nach einer kurzen Personen-Kontrolle betrat ich den Saal. Schon etwa die Hälfte der Plätze waren besetzt oder mit Taschen und Jacken reserviert worden. In der zweiten Reihe erspähte ich einen Stuhl ohne Tasche, Jacke oder Handtuch. Er war tatsächlich noch frei.
Die Tasche neben mir gehörte einer älteren Dame, die freundlich grüßte und sich als Frau eines Aktivisten von Sühnezeichen vorstellte. Sie sei aus Leipzig angereist und fragte, wie ich denn mit der Aktion Sühnezeichen verbandelt sei. "Gar nicht", sagte ich und verwies auf den Terminkalender des Bundespräsidenten. Dieser sollte am Gottesdienst und dem anschließenden Festakt teilnehmen. Deshalb auch die Anmeldung mit Name und Geburtsdatum, die Kontrollen am Eingang und das gelbe Bändchen mit der Aufschrift "Bundeskriminalamt".
Frank-Walter Steinmeier erschien recht unspektakulär 10 Minuten vor der Zeit. Zunächst stand er unbeachtet am Eingang - und stand und stand. Dann war der Chorleiter mit seinen Ansagen fertig und der Bundespräsident wurde offiziell begrüßt. Er durfte in der ersten Reihe direkt vor dem Altarbereich sitzen. Elke Büdenbender - seine Frau - war nicht dabei.
Normalerweise ist der Spitzenpolitiker das Maß aller Dinge und bestimmt mit seinem Erscheinen den Beginn. In der Französischen Friedrichstadtkirche war das heute anders. Zehn Minuten des Wartens, zehn Minuten der Stille. Keiner betrat mehr den Saal. Die Uhr des Organisten bestimmte den Beginn: Punkt zehn griff er in die Tasten.
Während des Gottesdienstes erfuhren wir viel über Aktion Sühnezeichen. So sei die Organisation aus dem Impuls entstanden: "Man kann es einfach tun". Die Betonung liegt auf dem Tun. Der sperrige Begriff Sühnezeichen wurde bewusst gewählt und auch über die Jahrzehnte beibehalten, da kein passenderes Wort gefunden werden konnte.
Wofür aber Sühne? Zwischen 1938 und 1945 war ein Drittel der gesamten jüdischen Weltbevölkerung ausgelöscht worden. Daran waren maßgeblich Menschen aus Deutschland beteiligt: als aktive Täter, Desinteressierte oder willige Masse. Solch ein Genozid schreit nach Vergeltung. Sühne kann also einerseits mit Rache zur Vergeltung angegangen werden oder andererseits als Reue und Wiedergutmachung. Aktion Sühnezeichen hat sich der letzteren Form verschrieben und setzt seit 1958 auf konkrete Hilfe für Überlebende und deren Nachkommen.
Bischof Dröge predigte über 5. Mose 32, 46-47 und kam über die Brücke der zehn Gebote immer wieder auf das Tun von Aktion Sühnezeichen zurück. Wenn jemand schuldig geworden sei, solle er um Vergebung bitten. Die Aktion Sühnezeichen sei eine "tatkräftige Bitte um Vergebung".
Dieser Gottesdienst machte bewusst, dass die Pogrom-Nacht von 1938 auch eine göttliche Dimension hatte. Damals waren in Berlin 9 von 15 Synagogen zerstört worden. Die Schriftrollen mit dem Gesetz - also auch den 10 Geboten - waren herausgeholt, zerschnitten und verbrannt worden. Markus Dröge kennt die protestantische Denkweise, die dem Gesetz normalerweise so begegne, dass der Freiheit in Christus der Vorrang eingeräumt werde. Zu Deutsch: "Wir müssen nichts tun".
Aktion Sühnezeichen tut und hat dabei keine Nachwuchs-Probleme. In den 60 Jahren des Bestehens waren etwa 25.000 Menschen losgezogen und haben Zeichen der Sühne getan. Hauptfokus: Israel. Das Aufgabenspektrum ist inzwischen gewachsen. Es geht um Hilfe für Behinderte, Minderheiten, Flüchtlinge, Sinti und Roma sowie um zivilen Ungehorsam und Akzente gegen Populismus.
Aktion Sühnezeichen hatte für heute Mittag auch zur Gegendemonstration anlässlich einer AfD-Veranstaltung vor dem Hauptbahnhof aufgerufen. Diese Demo zog sich relativ ungeordnet über das Regierungsviertel bis zur Friedrichstraße. Nach dem Gottesdienst mit Aktion Sühnezeichen hatte ich mich mit meiner Familie an der Kalkscheune verabredet. Dort wurden wir Zeugen, wie es aussieht, wenn es auf den Straßen Berlins brennt. Diesmal brannten - wenige Meter von der Synagoge in der Oranienburger Straße entfernt - keine Thora-Rollen, sondern Mülltonnen.