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Freitag, 22. April 2022

Dorfkirche Marzahn und die gute alte Bibelstunde

Längst haben Hauskreise die gute alte Bibelstunde vom wöchentlichen Terminplan der Gemeinden verdrängt. In der Dorfkirche Marzahn gibt es sie wieder - parallel zu den Hauskreisen.

Am Morgen kam eine WhatsApp meiner Schwiegermutter. Schon mehrfach hatten unsere Mütter versucht, uns die Bibelstunde ihrer Gemeinde schmackhaft zu machen. Beim Begriff Bibelstunde werden Erinnerungen an roten Tee, Schmalzstullen, muffige Räume, massive Tische und ein homogenes Publikum jenseits der Fünfzig wach.

Die von unseren Müttern beworbene Bibelstunde nennt sich Bibelabend und findet nur einmal im Monat statt. Früher war das meist an jedem Mittwoch. Der Bibelabend mit Pfarrer Dr. Luttenberger sei so theologisch und wissenschaftlich, dass die älteren Damen oft nur unter Mühen folgen könnten. Das sei deshalb genau das Richtige für uns. So ließen wir uns auf eine Evaluierung ein und gingen gestern Abend ins Gemeindehaus in Alt-Marzahn.

Zusammen mit dem Pfarrer senkten wir den Altersdurchschnitt auf Mitte Fünfzig. Meine Frau und ich stellten ein Drittel der Besucher. Auf den Tischen lagen knuffige Luther-Bibeln, deren Format mir sehr gut gefiel. Eine Bibel dieses Formates hatte mich vor 35 Jahren dazu motiviert, überhaupt mal in diesem spannenden Buch zu lesen. Es wurde roter Tee zubereitet, und dann ging es los.

Pfarrer Dr. Luttenberger führt seine Gemeinde gerade durch den 1. Korintherbrief. An diesem Abend war das zweigeteilte Kapitel 11 dran. Im ersten Teil geht es um Haarschnitte und Kleiderordnungen von Männern und Frauen beim Beten und prophetischen Reden. Im zweiten Teil stehen die bekannten Einsetzungsworte zum Abendmahl: "Denn so habe ich es von dem Herrn empfangen ..."

Wenn wir das alles durchgehen würden, könnte es ein sehr langer Abend werden. Zunächst lasen wir abwechselnd den Text. Danach schauten wir uns die Präsentation des Pfarrers über die regionalen und geschichtlichen Zusammenhänge an. Schnell wurde klar, dass ich einige der Passagen bisher immer ganz anders gelesen und verstanden hatte:

Dr. Luttenberger holte sein griechisches Wörterbuch dazu und stellte bestimmte Begriffe in den Gesamtkontext, so dass der oft als Totschlagargument genutzte Vers 16 seine toxische Wirkung verlor. Wir kennen Freikirchen in denen anhand dieses Verses gelehrt wird, dass Konfliktkultur eine Unsitte sei und Entscheidungen der Leitung nicht zu kommentieren seien, egal wie absurd diese sind. Die "Sitte" bezieht sich in diesem Text nämlich gar nicht auf das Diskutieren über Themen, sondern auf Haarschnitt und Kleiderordnung in der speziellen Situation von Korinth.

Auch die Drohung bezüglich der "unwürdigen" Teilnahme am Abendmahl wurde über einen Verweis auf Kapitel 10 aufgelöst. Eine Sichtweise, die aus dem Textzusammenhang naheliegend ist, mir bisher aber nicht aufgefallen war. Wohl deshalb, weil in einigen Freikirchen gelehrt wird, dass jemand nach frisch begangener Sünde oder bei Stress mit einem anderen Gemeindemitglied auf keinen Fall am Abendmahl teilnehmen könne. Über Kapitel 10 löst es sich jedoch dahingehend auf, dass mit "unwürdig" ein Essen ohne das Bewusstsein dessen, was Jesus für uns getan hat, gemeint ist.

Durch unsere Nachfragen hatten wir es geschafft, den Bibelabend auf eineinhalb Stunden zu verlängern. Zum Abschluss betete der Pfarrer noch und erkundigte sich nach dem Wohlergehen unserer Mütter. Auf dem Heimweg freuten wir uns über die neuen Erkenntnisse und diskutierten noch ein wenig darüber. Sollten wir vielleicht noch einmal hingehen?

Sonntag, 3. Mai 2020

Jubilate online und offline - 3. Sonntag nach Ostern

In der Kirchengeschichte wurde der 3. Sonntag nach Ostern mit der Bezeichnung Jubilate versehen. Zu Jubilate habe ich eine ganz besondere Beziehung.


Das Wort Jubilate erzeugt bis heute ein breites Grinsen. An viele Gottesdienste aus meiner Kindheit in einer Berliner Baptistengemeinde kann ich mich nicht erinnern. Auch bei längerem Nachdenken fallen mir nur drei Gottesdienste ein, obwohl wir wohl regelmäßig dabei waren.

In einem der Gottesdienste waren meine Filzstifte heruntergefallen und langsam aber sicher unter den Bänken Richtung Kanzel gerollt. Als nächstes kann ich mich an eine Predigt erinnern, die so gut war, dass die gesamte Gemeinde betroffen in den Bänken saß. Vielleicht wäre mir auch noch deren Inhalt im Gedächtnis geblieben, wenn nicht unmittelbar danach Bruder B. nach vorne gegangen wäre und die Predigt noch einmal ausführlich zerredet hätte. Die Stimmung war danach komplett ruiniert.

Kein Wunder also, dass mir sonst nur noch eine Predigt haften geblieben ist. Es ging um Jubilate. Der Chef des Baptistenbundes höchst persönlich war erschienen: schwarzer Anzug, schwarze Krawatte, schwarze Hornbrille, süßliche Stimme. Das Wort Jubilate wurde in seiner Predigt inflationär eingesetzt. Vielleicht hätte ich es mir auch gar nicht gemerkt, wenn er nicht bei jedem Jubilate verzückt nach oben geschaut und einen Freudensprung auf der Kanzel vollzogen hätte. So also predigt der oberste Bruder schlechthin. Jubilate: Bis heute schüttelt meine Mutter den Kopf, wenn ich dieses Wort in den Raum werfe.

Jubilate lässt sich ganz gut ins Deutsche übersetzen. Wir kennen ja das Jubeln - Neudeutsch Lobpreis. Man spricht heute sogar von der Generation Lobpreis, die sich vor etwa 20 Jahren entwickelt hat und in kontemporären Gemeinden wie ICF, Hillsong, Equippers oder ähnlichen Konstrukten tummelt. Die Generation Lobpreis ist um die 30, wechselt öfter mal die Gemeinde und kennt sich mäßig in der Bibel aus. Aber, Jubilate kann sie.

Meine Mutter ist inzwischen Mitglied in der evangelischen Landeskirche. Durch Corona hat nun auch die Landeskirche die Möglichkeit von Online-Gottesdiensten entdeckt. Regelmäßig stellt mir ein Freund aus dem Gemeindezentrum Marzahn Nord per WhatsApp die aktuellen Predigten auf YouTube zu. Und heute nun geht es um: Jubilate.

Auch das Robert Koch-Institut empfiehlt zurzeit die Online-Gottesdienste. Die Ansteckungsgefahr liegt bei null. Zudem erhöhen Online-Angebote die Teilnehmerzahl. Aber es gibt noch einen weiteren Vorteil: Wer sich persönlich bisher nie über eine Kirchenschwelle getraut hat, kann das jetzt ganz bequem und anonym vom Wohnzimmer aus tun. Übrigens gibt es auch gute Lobpreismusik bei YouTube. Diese kann man nach Herzenslust per Kopfhörer aufsaugen und dabei sein ganz persönliches Jubilate-Erlebnis haben.

Freitag, 24. April 2020

#COVID19 - bald wieder Offline-Gottesdienste

Seit zwei Wochen wird in der Bundespressekonferenz regelmäßig gefragt, wann und unter welchen Auflagen wieder Gottesdienste stattfinden dürfen. Gemeint sind damit Gottesdienste vor Ort in den Gemeinderäumen.



Es habe "ausgesprochen hilfreiche Gespräche" gegeben. Am 17. April 2020 hatten sich Vertreter der Religionsgemeinschaften erstmalig mit Staatsekretär Kerber im Innenministerium getroffen. Schnell hatten sie sich auf die Einrichtung einer Arbeitsgruppe verständigt. Ziel war die Erarbeitung eines Konzeptes zum Wiederanlauf von Gottesdiensten und Veranstaltungen in den Gemeinderäumen.

Eine große Zeitung war von der Verschleppung des Vorgangs durch die muslimische Seite ausgegangen. Das konnte vom Ministerium nicht bestätigt werden. Alle Zuarbeiten seien fristgerecht eingegangen - eine zweistellige Anzahl von Vorschlägen. Daraus sei ein "gutes, tragfähiges Konzept" erarbeitet worden. Momentan werde es durch das Robert Koch-Institut geprüft. Auch die Bundesländer schauen noch einmal drüber.

Gerade Letztere überholen die Kanzlerin gerne mal bei der Lockerung der Corona-Regeln. In diplomatisch gefärbtem Deutsch bezeichnet man das als "unterschiedliche Entwicklung". Deshalb bleibt abzuwarten, ob sich die Länder und einzelnen Gemeinden an die Vorgaben des Konzeptes halten. Einige Gemeinden könnten im Überschwang der Harmonie für eine wundersame Infektionsvermehrung sorgen. Eine freikirchliche Konferenz mit über 2.000 Teilnehmern im Februar im Elsass hatte in diesem Zusammenhang für erhebliche mediale Aufregung gesorgt.

Die oben genannte Arbeitsgruppe bestand aus Vertretern der evangelischen, katholischen und orthodoxen Kirche sowie des Zentralrats der Juden und des Koordinierungsrates der Muslime. In der Sache "baldige Versammlungen nach Corona" waren sich alle einig und konnten deshalb konstruktive Ergebnisse erzielen. Eine ungewohnte Einheit wie derzeit in der Großen Koalition.

Allein die Freikirchen mit ihren 1,3 Millionen Mitgliedern waren nicht an der Ausarbeitung der Konzepte beteiligt. Den Freikirchen fehlt ein entsprechender Dachverband. Auch wenn sich die Deutsche Evangelische Allianz als solch ein Dachverband ansieht, scheint sie doch von der Politik nicht wirklich wahrgenommen zu werden. Auch bei ihrer Zielgruppe hat sie eher ein verstaubtes Image, das einmal im Jahr durch die Allianz-Gebetswoche in Erscheinung tritt.

Modernen Freikirchen kann Corona nahezu egal sein. Ihre zahlreichen Gottesdienstbesucher verfolgen die Predigten und den Lobpreis auch gerne von zu Hause aus. Kleingruppentreffen gestalten sie per Videokonferenz. Parallel dazu wird die leidende Gastronomiebranche durch Pizza-Bestellungen unterstützt. Auch wir haben uns inzwischen an internationale Gottesdienste per Livestream gewöhnt.

Sonntag, 19. Januar 2020

Martin Luther in Steglitz

Steglitz - der Bible Belt von Berlin. Heute besuchten wir den Gottesdienst der Martin-Luther-Kirche in der Nähe des Botanischen Gartens.



Das Navi führte uns einen interessanten Weg. Wegen der Libyen-Konferenz war die Innenstadt gesperrt. Die Innenstadt ist das Nadelöhr, wenn man nach Steglitz fahren möchte. Meine Frau nutzte die Zeit, um das Bonusprogramm ihrer Hebräisch-App zu absolvieren: "Ani koneh Tick schechor" (Ich kaufe eine schwarze Tasche.), "Atta jodea lizlol?" (Kannst du tauchen?) - Wir kamen über die sprachlichen Unterschiede von Können und Befähigung ins Gespräch. Nach einer halben Stunde waren wir in Steglitz und bogen in ein blumiges Wohngebiet ein: Hyazinthenstraße, Tulpenstraße, Hortensienstraße.

Martin Luther war eingerüstet. Am Gerüst ein großes Schild der Lotto-Stiftung. "Aha, Oma finanziert den Bau der Kirche", bemerkte mein Sohn. Eine ältere Dame verschwand unter den Gerüsten. Wir folgten ihr und gelangten in einen hellen Vorraum. Dort wurden wir bereits vom Pfarrer begrüßt: schwarzer Talar und sehr freundlich. Ein anderes freundliches Gemeindemitglied drückte uns ausreichend Gesangsbücher in die Hand. Die Kirchenbänke waren mit Kissen belegt, so dass auch längere Gottesdienste möglich waren. Die Kirche war gut temperiert.

Bemerkenswert war die natürliche Freundlichkeit, die sämtliche Gottesdienstbesucher ausstrahlten. Man fühlte sich sofort willkommen. Es gab einige Familien und ältere Besucher, jedoch kaum Jugendliche. Die Kinder durften nach einem kurzen gemeinsamen Beginn in ihr eigenes Programm gehen. Die Anfangsliturgie nahm einige Zeit in Anspruch.

Dann folgte die Predigt. Dazu hatte sich der Pfarrer an eine Kanzel gestellt und seine Kollegin an die andere Kanzel. Beide zeigten uns, wie eine Dialogpredigt funktioniert. Das war recht interessant, weil sie sich einerseits die inhaltlichen Bälle zuwarfen und andererseits die Fragen und Bedenken des anderen auflösten. der Predigttext stand in Jeremia und war durch die Losungen vorgegeben worden. Während die Pfarrerin zunächst überlegt hatte, einen anderen Text zu nehmen, ging ihr Kollege darauf ein, dass Gott in all den herausfordernden Umständen immer noch alles im Griff habe.

Zum Abschluss des Gottesdienstes gab es noch ein gemeinsames Abendmahl, den Segen und ein Postludium von der Orgel. Meine Frau bemerkte, dass die Orgel endlich mal flott gespielt worden sei. So habe man die Lieder gut mitsingen können.

Die oben schon erwähnte Willkommenskultur setzte sich im Vorraum weiter fort. Kaffee und Kuchen wurden uns auf eine charmante Weise regelrecht aufgedrängt. Einige Gemeindemitglieder sprachen uns an und wollten wissen, ob mein Sohn Konfirmand ist. Unsere eigene Besuchergruppe war inzwischen auf sieben Personen angewachsen: Freunde aus Saddleback, Arbeitskollegen und wir. Die Kollegen wohnen in Steglitz und sehen im kurzen Fußweg einen erheblichen Mehrwert. Der Gottesdienstbeginn um 11 ist ebenfalls gut auf jüngere Besucher abgestimmt. Ganz abgesehen von dem angenehmen Klima in der Martin-Luther-Kirche.

Mittwoch, 31. Oktober 2018

Katholiken und Lutheraner beim Reformationstag in der Dorfkirche Marzahn

Reformationstag zusammen mit einer katholischen Gemeinde? Geht sowas überhaupt? In der Dorfkirche Marzahn sahen wir heute, wie das funktioniert.



Es begann um 17:45 Uhr. Acht Wellen morbide geschminkter Kinder fluteten durch unsere Straße. Näääääht, schrillte die Klingel. Ich war allein zu Hause und machte die Bürotür zu. Meine Familie nutzte den Eingang des Nachbarhauses und schlich sich über den Durchgang in der neunten Etage in unseren Aufgang. Erwischt! Überall totgeschminkte Kinder, die nach Süßigkeiten bettelten.

Im Familien-Chat der Großfamilie wurden Gruselvideos geteilt und mit entsprechenden Emojis kommentiert. Meine Schwiegermutter setzte ihren eigenen Akzent: "Damit kann ich mich nicht anfreunden, für mich ist heute Reformationstag". Zuvor hatte sie darum geworben, mit uns zusammen das Abendmahl in der Dorfkirche Marzahn einzunehmen. Das entsprach nicht ganz so unseren Vorstellungen. Dennoch kamen meine Frau und ich ihrem Wunsch nach.

Bereits an der Tür begegnete uns eine junge Frau in knallrotem Mantel. Soviel Frische hatte ich nicht erwartet. In der Kirche war es gut geheizt, aber nicht überheizt. In den Bänken saßen viele ältere Herrschaften. Wir platzierten uns auf einer der vorderen Reihen, damit meine Schwiegermutter gut hören konnte.

Es kamen weitere Besucher, auch jüngere Leute. Die Empore war voll. Der ökumenische Chor, bestehend aus evangelischen und katholischen Sängern, hatte sich auf diesen Abend gut vorbereitet. Geleitet wurde er vom Kantor der benachbarten katholischen Kirche. Die Beziehungen zwischen den beiden Gemeinden bestehen schon sehr lange. Immer wieder werden gegenseitig Räume zur Verfügung gestellt und Feste des Kirchenjahres gemeinsam zelebriert.

Der Gottesdienst zum Reformationstag lief mit einer umfangreichen Liturgie ab. Lieder von Paul Gerhard und anderen bekannten Kirchenmusikern wurden gesungen oder durch den Chor vorgetragen. Da Pfarrer Ludewig verhindert war, führte ein theologischer Mitarbeiter durch das Programm und hielt auch die Predigt.

In der Predigt ging es um den Galaterbrief mit der Kernaussage (Galater 5, 1): "Zur Freihat hat uns Christus befreit". Freiheit, die in Verantwortungsbewusstsein gelebt wird und uns entspannt das Richtige zur richtigen Zeit tun lässt. Im Mittelpunkt stand Jesus. Jesus war auch das Bindeglied des heutigen Abends für die katholischen und evangelischen Christen.

Dann sangen wir zusammen mit den Katholiken noch den Reformationsklassiker "Ein feste Burg", sprachen das Glaubensbekenntnis und nahmen gemeinsam das Abendmahl ein. Drei Sachverhalte, die normalerweise in dieser Form nicht üblich sind.

Bei den Ansagen erfuhren wir, dass das katholische Gemeindehaus zurzeit renoviert wird. deshalb nutzt die Gemeinde die evangelische Dorfkirche für ihre Gottesdienste und sonstigen Veranstaltungen. Auch das Martinsfest wird in diesem Jahr in der Dorfkirche stattfinden.

Sonntag, 6. Mai 2018

Bullets, Warriors, Katholiken und die Gottesdienste in Eberswalde

Das erste Football-Spiel unseres Sohnes fand heute in Eberswalde statt. Die Zeit zwischen Abliefern des Kindes und Spielbeginn nutzten wir zum Besuch eines katholischen Gottesdienstes im Ortsteil Eberswalde-Finow.



"Warum wohnen wir nicht in Eberswalde?", fragte unsere Tochter nachdem wir unseren Sohn am Wasserturm rausgelassen hatten. Rechts und links saftige Wiesen, kleine Wäldchen, flache Häuser, gepflegte Altbausubstanz, hier noch ein See und dort neues Kopfsteinpflaster. Warum eigentlich nicht? Das sah hier ganz nett aus.

Im Vorfeld hatte ich bei Google nach Kirchen in Eberswalde gesucht. Die Ergebnisse waren übersichtlich: Baptisten, eine evangelische Kirche, eine freie Christus Gemeinde Eberswalde, eine neuapostolische Gemeinde, eine methodistische Gemeinde und zwei katholische Gemeinden. Neuapostolisch hatten wir bisher nicht auf dem Radar. Die Webseiten der Methodisten, Baptisten und Evangelischen Kirche waren so altbacken oder rudimentär, dass ein Besuch ebenfalls ausschied.

Christus Gemeinde Eberswalde und das erste Spiel der Berlin Bullets

Den interessantesten Eindruck vermittelte die CGE Christus Gemeinde Eberswalde. Deren Gottesdienst sollte von zehn bis zwölf gehen. Das kollidierte jedoch mit dem Spielbeginn der Berlin Bullets gegen die Eberswalde Warriors um elf.

Ein halbes Jahr hatte unser Sohn auf dieses erste echte Spiel hintrainiert: American Football. American Football hat mit Fußball so gut wie gar nichts zu tun und ist eine Sportart mit Schubserei, Festhalten, Umrennen, vielen blauen Flecken und undurchsichtigen Regeln. Die Amis stehen darauf. Deshalb läuft alles auf Englisch mit Quarterback, O-Line, Defense und ähnlichen Begriffen, die unser Sohn inzwischen komplett beherrscht.

St. Theresia zum Kinde Jesu

Blieb also noch die katholische Kirche St. Theresia vom Kinde Jesu, wo der Gottesdienst um 8:30 Uhr begann. Oh, war das früh! Um diese Zeit mussten wir aber unseren Sohn abgegeben haben und hatten dann noch zweieinhalb Stunden Zeit.

St. Theresia ist eine kleine Backsteinkirche auf einem Eckgrundstück. Der Innenraum ist hell und freundlich. An den Wänden sind Reliefs mit dem Kreuzweg eingelassen. Der Altarbereich dieses schlichten Raumes freute mich besonders - endlich mal wieder Latein: "Agnus Dei qui tollit peccatum mundi". Das steht in Johannes 1 Vers 29 und bedeutet: "Das Lamm Gottes, das wegnimmt die Sünde der Welt". Meine Tochter schaute skeptisch, da sie Wörter wie peccatum (Sünde) in der Schule nicht gelernt hatte.

Der Saal füllte sich, so dass letztlich etwa 30 Personen auf den Holzbänken saßen. Das Durchschnittsalter lag bei 70. Eigentlich schade, denn die Ansagen des Pfarrers und dessen Predigt waren wirklich kurzweilig und gut. Er sprach frei, hielt Blickkontakt zu den Besuchern und redete wie ein Mann, der die Alltagssprache und die Herausforderungen seiner Nachbarn kennt. Unterstützt wurde er von zwei Messdienern im Teenager-Alter. Diese beäugten uns unentwegt, da wir den Altersdurchschnitt so signifikant nach unten korrigierten.

Katholisch heißt "für alle da"

In der Predigt zu Apostelgeschichte 10 - der heidnische Hauptmann Cornelius wird getauft - machte der Referent klar, dass auch Cornelius katholisch wurde. Katholisch im Sinne von "für alle da". Mir kam dabei ständig in den Sinn, dass auch Luther katholisch gewesen sei, obwohl man ihn heute in einer anderen Ecke einordnet. Die Predigt ermutigte, dass auch eine katholische Gemeinde wieder praktisch für alle da sein sollte. Dass sich der biologische Nachwuchs ausgedünnt hatte, war ja deutlich zu erkennen.

Übrigens war ich bei Recherchen zum Nuntius des Heiligen Stuhls - also dem Botschafter des Vatikans - darauf gestoßen, dass Erzbischof Eterovic (Chef des Diplomatischen Korps in Deutschland) seit 2011 als Päpstlicher Rat zur Förderung der Neuevangelisierung fungiert. Dieser Rat zur Förderung der Neuevangelisierung wirkt gerade in Ländern, wo das Christentum schon lange beheimatet ist, jedoch durch die Säkularisierung an Bedeutung verloren hat. Genau in diesen Tenor stimmte die heutige Predigt bei St. Theresia ein.

Gesang ohne Instrumente

Bemerkenswert war auch die Musik. Der Gesang kam komplett ohne Instrumental-Begleitung aus und füllte das Volumen des Kirchenschiffs. Wegen der guten Beschilderung konnten wir fast alle Elemente der Liturgie mitsingen und schauten uns den Rest von den Leuten ab, die um uns herumsaßen. Es gab auch Abendmahl und den üblichen Friedensgruß mit Körperkontakt: Hände schütteln.

Nach dem Gottesdienst brachten wir die Gesangsbücher weg und traten in die gleißende Sonne. Über Kopfsteinpflaster rumpelten wir zum Wasserturm zurück.

Bullets versus Warriors

Die Berlin Bullets waren umgezogen und machten sich auf dem Platz warm. Die Warriors hatten zwei Hüpfburgen aufgeblasen und ein großes WARRIORS auf den Platz gepinselt. Warriors heißt Krieger, während Bullets die Patronen sind. Nach der ersten Halbzeit stand es 40 zu Null für die Eberswalder. Unentwegt war ich unterwegs, um Kuchen, Würstchen, Salat, Grillfleisch, Kaffee, Schirme oder Decken zu holen. Bei den Regeln sah ich ohnehin nicht durch. Ich wusste nur, dass mein Sohn die weiß-grüne 53 war. Den Rest konnte man unter Helm und dem Brustpanzer nicht erkennen. Meine Tochter hatte noch dafür gesorgt, dass er gelbe Turnschuhe trug. Das fiel auf.

Es war das erste Spiel dieser Mannschaft überhaupt. Deshalb waren die 40 zu Null zu verkraften. Insbesondere deshalb, weil in der zweiten Halbzeit keine weitere Veränderung des Spielstandes eintrat. Die erste Halbzeit war zum Üben, die zweite zum Bewähren. Wir sind gespannt auf das nächste Spiel.

Montag, 16. April 2018

Heinrich Grüber und der Kirchenkampf der Nachkriegszeit

Und wieder lief mir ein wichtiger Akteur der Bekennenden Kirche über den Weg: Heinrich Grüber. Eher beiläufig erfuhr ich von einer Doktorarbeit über Grübers Wirken nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Ausführungen habe ich dann sogleich gelesen.



Wir genossen die Frühlingssonne, als wir zum Savoy schlenderten. Militärbischof Dr. Sigurd Rink sprach über die Geschichte seines Dienstgebäudes unmittelbar neben dem Bahnhof Zoo. Dort habe auch ReiBi Müller gesessen. Das niedliche ReiBi bedeutet Reichsbischof und war für die Christen der damaligen Zeit gar nicht niedlich. Der ReiBi gehörte den Deutschen Christen (DC) an, über deren Spezifika hier ja in letzter Zeit mehrfach berichtet wurde.

Die gegenüberliegende Bahnhofsmission war eine der Einrichtungen, die nach 1933 zuerst verboten worden war. Ein Zeichen für deren gute Arbeit. Im Gespräch über die DC fielen schnell die Namen Niemöller und Grüber. Eher beiläufig erwähnte der Bischof dazu, dass er seine Doktorarbeit über Heinrich Grüber geschrieben habe.

Schon wieder Grüber

Mir klappte die Kinnlade herunter. Stand doch ein Denkmal von Grüber direkt vor dem CVJM-Haus in Kaulsdorf. Doktor Rink als gebürtiger Hesse hätte doch über sonst welche praxisfernen Themen der Theologie schreiben können, aber ausgerechnet über Heinrich Grüber? Das war so spannend, dass ich nach dem Termin mit einem orangenen Buch und einer persönlichen Widmung das Haus verließ.

Sigurd Rink - Der Bevollmächtigte Probst Grüber und die Regierung der DDR - Doktorarbeit
Sigurd Rink "Der Bevollmächtigte - Probst Grüber und die Regierung der DDR" (Doktorarbeit)
An zwei Arzt-Terminen und einem Wochenende verschlang ich die 246 Seiten der Doktorarbeit. Titel: "Der Bevollmächtigte - Probst Grüber und die Regierung der DDR".

Die Arbeit stellt nicht nur eine fundierte Informationsquelle zu den politischen und kirchlichen Zuständen zwischen 1945 und 1958 dar. Sie zeigt auch sehr deutlich, dass dessen Autor Wert auf allgemeine Verständlichkeit legt. Sobald man sich mit dem Schriftbild angefreundet hat, liest sich das Werk sehr flüssig. In sehr seltenen Fällen werden Fremdwörter, lateinische Begriffe oder Zitate auf Englisch verwendet.

Pragmatiker und Diplomat

Systematisch nähert sich Sigurd Rink den jeweiligen Lebensabschnitten Heinrich Grübers. Dabei werden die politischen Zusammenhänge und Machtgeflechte mit den speziellen Begabungen Grübers in Verbindung gebracht. Heinrich Grüber war theologisch ausgebildet, hatte seinen Schwerpunkt jedoch immer in den sozialen Aspekten des barmherzigen Samariters gesehen. Das Samariter-Gleichnis war die rote Linie in seinen Entscheidungsprozessen und seinem sehr beherzten, schnellen und flexiblen Handeln. Heinrich Grüber war Pragmatiker und diplomatisch gewandt. Heute würde man ihn als Networker, Lobbyisten und Manager bezeichnen.

Grüber, der selbst einige Zeit im KZ gesessen hatte, kam in den 13 Jahren nach dem Krieg faktisch vom Regen in die Traufe. Getrieben vom Samariter-Vorbild kümmerte er sich mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln und Kontakten um eine praktische Linderung der Not in Berlin. Er bewies Fingerspitzengefühl beim Umgang mit der russischen Besatzungsmacht und den Entscheidern beim Magistrat. Er vernetzte Hilfsorganisationen, Kirchenstellen, überkonfessionelle Akteure und Staatssekretäre. Auch international war er bekannt und anerkannt. So konnte er Einiges in Sicht auf die schwierige Versorgung mit Medikamenten und medizinischem Gerät erreichen.

Tatsachen schaffen und Kirche aushungern

Sobald die Seitenzahl dreistellig wurde, konnte ich das Buch kaum noch zur Seite legen. Stalins Tod, der vorauseilende Gehorsam der SED-Führung, die Vorbereitung juristischer Rahmenbedingungen zur Zerstörung der Kirche in Ostdeutschland und deren praktische Anwendung illustrierten einen Teil der Zeitgeschichte, dem ich mich in dieser Intensität und differenzierten Betrachtung noch nie genähert hatte.

Heinrich Grüber zieht sich zwar durch alle Kapitel hindurch, ist aber oftmals gar nicht der Hauptdarsteller. Spannend ist die Interaktion seiner Bezugspersonen. Diese standen immer auch im Spannungsfeld des beginnenden Kalten Krieges, der Besatzungsmacht, der Pressefehden und dem systematischen Aushungern der Kirche im Osten.

Jugend und Zukunft

Schon oft habe ich an dieser Stelle bemerkt, dass wir in den Gemeinden Berlins nur selten eine funktionierende Jugendarbeit angetroffen haben. Unser damaliges Gründungsprojekt in Marzahn hatte ja einen starken Fokus auf Jugendliche und eine entsprechend hohe Fluktuation. Das änderte sich nach etwa 10 Jahren, als die jugendliche Kern-Mannschaft die Zwanzig überschritten hatte. Die Zielgruppe änderte sich darauf in Richtung Mittdreißiger mit Kleinkindern. Die typische Demografie der angesagten Gemeinden Berlins.

Die Doktorarbeit von Sigurd Rink setzt hier noch einmal einen sehr klaren Akzent. In den 1950er Jahren entbrannte ein erbitterter Kampf um die Jugend im Osten Deutschlands. Die Freie Deutsche Jugend (FDJ) sollte die Themen besetzen und die Junge Gemeinde wurde aktiv verfolgt. Das Ergebnis bekamen wir Mitte der 1990er Jahre in Marzahn zu spüren. Atheismus in dritter Generation: "Den englischen Text verstehe ich, aber was ist ein Jesus?"

Good Guy - Bad Guy

Trotz seines Pragmatismus und seiner ausgeprägten Manager-Fähigkeiten, war Grüber durch und durch Diplomat und bezeichnete sich immer wieder selbst als Pontifex - Brückenbauer. Dialog und Zielerreichung in kleiner Runde waren seine Strategie. Dem gegenüber stand Bischof Otto Dibelius, sein Chef. Dieser ging die sowjetische Besatzungsmacht und die SED-Führung offen und konfrontativ an und zog sogar Vergleiche zur jüngst abgelösten Diktatur. Damit erzielte er zwar auch Effekte, aber keine, die der Kirche genützt hätten.

Grüber hatte mit seiner Diplomatie wesentlich mehr Erfolg. Allerdings auch nur bis 1958. Dann fühlte sich der Machtapparat der DDR so gefestigt, dass sämtliche Brücken zwischen evangelischer Kirche und Staat abgebrochen wurden. Der Ministerpräsident entzog Grüber die Akkreditierung und die Angelegenheiten der Kirche wurden an die Regionalebenen delegiert. Damit gab es keinen einheitlichen Ansprechpartner mehr und der Klassenfeind Kirche war als segmentierter Feind besser zu bekämpfen.

Selbst lesen

Man könnte hier sicher noch auf die Massenflucht, die fatalen Wirkungen des Militärseelsorge-Vertrages, die Sicht der Russen auf die Stellung der Kirche oder die legislativen Vorbereitungen eingehen. Das würde aber an dieser Stelle zu weit führen.

Ich jedenfalls fand die Lektüre äußerst spannend und kann das Buch in mehrfacher Hinsicht empfehlen: Geschichtsbildung, Charakterbildung und Durchblick in verschiedenen Macht-Konstruktionen bei Kirche, Organisationen und Staatsgebilden.

Donnerstag, 15. März 2018

Deutsche Christen und Bekennende Kirche im Großraum Marzahn

Die Denkweisen und das Wirken der Deutschen Christen hat heute kaum noch jemand auf dem Radar. Bekannt ist vielleicht noch, dass die Bekennende Kirche einen Gegenakzent gesetzt hatte. Gestern Abend informierten wir uns über die damaligen Konstellationen in den Ortsteilen Biesdorf, Mahlsdorf und Kaulsdorf.



Nationalsozialismus ist eng mit Zahlensymbolik verbandelt. So steht 88 für HH, die Abkürzung von Heil Hitler. Die 18 steht für AH wie Adolf Hitler und die 43 für DC wie Deutsche Christen. Das war wohl auch ein Grund dafür, dass die Kirche43 in Marzahn ihre 43 nur im Branding tragen durfte. Der Verein musste sich alternativ Junge Kirche Marzahn e.V. nennen, obwohl ein Marketing-Experte aus Bielefeld die 43 lediglich aus der alten Postleitzahl extrahiert hatte. Ortsgemeinde eben.

Wie schon vor ein paar Tagen in Dahlem festgestellt, ist die Geschichte der Kirche zwischen 1933 und 1945 sehr spannend. Die Art und Weise der Machtübernahme mit vollendeten Tatsachen, kurzfristigen Terminen und Denunzierungen passt in das hier schon mehrfach thematisierte Schema des Machtmissbrauchs. Prinzipiell läuft so etwas immer gleich ab. Im national-sozialistischen Berlin hatte es allerdings größere Ausmaße, wurde offen praktiziert und war lebensgefährlich.

Deutsche Christen

Die Deutschen Christen traten schon 1932 offen zu Tage. Die Mitglieder der DC einte ein klares Bekenntnis zum Führer mit der Umschrift 18. 1933 besetzten die DC sämtliche Gemeinde-Kirchenräte und offiziellen Kirchenämter. Zunächst bestand die Hoffnung, dass Hitler die gottlosen Strömungen der 1920er Jahre auf ein christliches Fundament zurückhole. Das entpuppte sich einige Jahre später jedoch als Irrtum. Die 43er reklamierten immer wieder Einheit in der deutschen Christenheit. Einheit unter der 18.

Bekennende Kirche

Die Bekennende Kirche setzte mutig einen Gegenakzent und konnte erst einmal relativ frei agieren. Ihre Mitgliedskarte war knallrot. Es wurde auch ein Pfarrernotbund gegründet, der Pfarrer unterstützen sollte, die wegen ihrer Abstammung nicht mehr offiziell für ihren Beruf zugelassen waren. Durch die fingierten Gemeindewahlen hatten die DC sämtliche Posten der kirchlichen Upline besetzt und regierten ihre Ansichten bis in die Ortsgemeinden durch.

Fließende Übergänge

Bei der gestrigen Veranstaltung im Bezirksmuseum fielen jede Menge Namen: Bischöfe, Pfarrer, Einwohner des Großraums Marzahn. Einige waren straffe Anhänger von 18 und 43. Andere bezeichneten sich als neutral, waren aber Anhänger von 18. Weitere Christen schlossen sich der Bekennenden Kirche an und stellten Jesus über die 18. Einige wechselten die Seiten. Andere wurden wegen belangloser Äußerungen ins Konzentrationslager geschickt.

Es war eine turbulente Zeit, die jedoch die viel beschworene Einheit innerhalb der DC ins Bröckeln brachte. Wenn Jesus aus dem Fokus gerät, kann das im Raum der Kirche nicht auf Dauer funktionieren. Doppelmitglieder von SA und DC überwarfen sich mit heidnischen SA-Leuten, gerieten in die Strukturen der Macht und wurden letztlich fallen gelassen.

Heinrich Grüber aus Kaulsdorf

Eigentlich sollte es um den Pfarrer Heinrich Grüber aus Kaulsdorf gehen. Dieser stellte aber bei der Fülle der Informationen nur eine Randfigur dar. Heinrich Grüber hatte auch die Rote Karte der Bekennenden Kirche und war aktiv an der Rettung konvertierter Juden beteiligt. Er selbst musste einige Jahre in den Konzentrationslagern Sachsenhausen und Dachau verbringen. Schutzhaft nannte sich das.

Heinrich Grüber überlebte diese Zeit und wirkte nach dem Krieg als Bürgermeister von Kaulsdorf. Er versteckte viele Frauen und Mädchen vor den Massen-Vergewaltigungen durch russische Soldaten. Vom Regen in die Traufe. Beim Eichmann-Prozess sagte er 1961 als einziger Nicht-Jude aus. In einem guten Alter von 84 Jahren starb er in Berlin.

Sonntag, 22. Oktober 2017

Marienkirche am Alexanderplatz

Wenn Fotos der Kreuz-Reflexion auf dem Fernsehturm aufgenommen werden, dient die Marienkirche oft als willkommener Vordergrund - wegen der Bildtiefe. Heute besuchten wir einen Gottesdienst in der Marienkirche.



Der erste Todestag meines Schwiegervaters veranlasste uns heute zum Besuch der Marienkirche am Alexanderplatz. Anonymes Kirchenflair und Gottesdienste am heimischen Fernseher waren für ihn das gewünschte Maß christlicher Gemeinschaft gewesen. Seine Frau schaffte es heute jedenfalls, dass wir zu sechst vor Ort erschienen.

Ein großes Plus der Marienkirche ist es, dass sonntags um den Alex herum kostenlos geparkt werden kann. Die Sonne schien und ich bemerkte, dass ich mir die Kirche bisher noch nie so genau angeschaut hatte. Die Architektur ist schon etwas seltsam und wirkt - wie Berlin - heterogen.

Willkommen und Begleitheft

Wir passierten die Enge Pforte an der Westseite, vorbei an einem Bettler und einem Schild, auf dem vor betrügerischen Bettlern gewarnt wurde. Dann drückte uns ein freundlicher Herr ein Heftchen in die Hand.

Die Begleitung meiner Schwiegermutter hat den Vorteil, dass wir endlich mal wieder ganz vorne sitzen dürfen. Die Familie fühlt sich normalerweise unsicher wegen des Aufstehens und Hinsetzens. Das kann man aus den hinteren Reihen besser nachahmen. Vorne wird man selbst zum Trendsetter.

Hier war das aber kein Problem. Im 20-seitigen Begleitheft aus Ökopapier stand alles sehr genau beschrieben. Jeden liturgische Gesang mit Noten und Text, Aufstehen, Hinsetzen, jedes Mitmach-Gebet, das Glaubensbekenntnis und den Predigttext konnten wir chronologisch verfolgen. Ich war beeindruckt.

Evangelische Kirchengemeinde St. Petri - St. Marien

Anhand der Kerzen vor dem Altarbereich, der Marienstatuen, der weißen Kleider der Akteure und des mehrfach erwähnten "St. Petri - St. Marien" war ich mir wegen der konfessionellen Einordnung der Kirche unsicher. Auf Seite 20 fand ich dann endlich den auflösenden Hinweis: "Evangelische Kirchengemeinde St. Petri - St. Marien".

Die Marienkirche hatte ich als dunkles Gemäuer in Erinnerung. Das lag wohl daran, dass ich sie bisher immer nur abends besucht hatte. Heute Morgen wurde das helle Innere von Licht durchflutet. Das betraf insbesondere den Altarbereich auf der Ostseite. Ich bewunderte die bis ins Detail modellierten Skulpturen und fragte mich, wie die Künstler damals nur so gut die Bewegung von Kleidung und Haaren ohne Windkanal nachbauen konnten.

Markus, Lukas und die Engel

Im Saal saßen wohl etwas über 80 Personen. Die Aktionen fanden zunächst vor dem Altar statt. Dort war auch ein grünes Rednerpult aufgestellt. Von diesem aus wurde der Predigttext rezitiert: Markus 1, 32-39. Das ist eine Passage, die mit Lukas 4 und 5 harmoniert und einen interessanten Umdenkungsprozess bei Petrus ausgelöst hatte.

Als wir im Begleitheft die Heftklammern erblickten, also Seite 10, begann die Predigt. Leider nicht vom grünen Pult aus. Die Vikarin stieg eine schmale Treppe empor, verschwand kurz und dann erblickten wir sie wieder - umrahmt von einer unzählbaren Schar kleiner Engel, die über und unter ihr in und um ein Wolkengebilde herum schwebten. Es waren so viele, dass ihre Bewegungsfreiheit teilweise etwas eingeschränkt erschien. Einer der Engel hangelte sich an der Öffnung mit der Vikarin herab.

Exemplarischer Tagesablauf von Jesus

Plötzlich bemerkte ich, dass die erste Reihe doch keine so gute Idee war. Wir mussten jetzt etwa 45° schräg nach oben in die Engelswolke schauen. Es war ein Gebot der Höflichkeit, die Rednerin anzusehen. Sie schilderte einen Tagesablauf, wie ich ihn kenne: Kaffee, Ruhe, Kaffee, Frühstück, Kaffee, Lesen - dann begann auch bei ihr der Alltag und endete mit Erschöpfung am Abend. Das war die passende Brücke für den Arbeitstag von Jesus, der sich dann alleine auf einen Berg zurückgezogen und gebetet hatte.

Die Predigt war recht kurz. Um der ungesunden Körperhaltung keinen Dauerzustand zu verleihen, widmete ich mich wieder der Inneneinrichtung und der immer intensiver werdenden Licht-Durchflutung. Bei den folgenden Ansagen erfuhren wir, dass die Vikarin heute geübt habe. Am nächsten Sonntag solle ihre Predigt bewertet werden.

Knack!

Der Gottesdienst ging noch über weitere sechs Seiten des Heftchens und enthielt auch das Abendmahl: Oblaten und Weißwein. Bei den Einsetzungsworten brach Pfarrer Gregor Hohberg eine große Oblate. Der Bruch schallte durch das Schiff - immer wieder ein besonderer Moment. Es folgten Abschlusslieder und der Segen. Dann wurde die Gemeinde bei Orgelmusik in den Sonntag entlassen.

Kaffee, Kekse und Thailänder

Meine Frau traf beim Rausgehen noch ihre Religionslehrerin aus Steglitz. Die christliche Welt kann ab und zu recht klein sein. Mehrere Besucher gingen auf die Vikarin zu und bedankten sich für die Predigt. Sie freute sich. Ein Mitarbeiter trug große Teller mit Keksen in den Eingangsbereich. Dort waren Tische mit Kaffee aufgebaut. Das Angebot wurde rege genutzt. Allerdings nicht von uns.

Wir wollten anlässlich des Todestages meines Schwiegervaters zu einem Thailänder in Prenzlberg fahren. Bei Ingwer-Tee mit Zitronengras unterhielten wir uns über den Gottesdienst. Fast alle konnten Passagen der Predigt wiedergeben. Allein die Akustik sei in der ersten Reihe nicht so optimal gewesen.

Donnerstag, 10. August 2017

Münster und die Sache mit der Taufe

Dass Münster etwa die gleiche Einwohnerzahl wie Berlin-Marzahn hat, war einem Dialog der Kanzlerin mit Kulturstaatsministerin Grütters zu entnehmen. Münster lag in der Nähe unserer Urlaubsroute und bot Potenzial für weitere Entdeckungen.



Über den Sinn eines Kulturstaatsministers ließe sich an geeigneter Stelle philosophieren. Immerhin dient Berlin-Marzahn als Wahlkreis für Monika Grütters. Monika Grütters wurde 1962 in Münster geboren. Das ist die erste Brücke. Die zweite Brücke besteht in der Einwohnerzahl von knapp 260.000. Weitere Brücken wären die hervorragende Infrastruktur und das viele Grün. Das war es dann aber wohl schon.

Zwei Fahrräder

Münster gilt als Studentenstadt und die Stadt mit dem höchsten Fahrradaufkommen pro Kopf in Deutschland. Nämlich zwei. Das ergibt ein Gesamtaufkommen von einer halben Million Drahtesel. Eine Horrorvorstellung für den Autofahrer aus Berlin, der die rücksichtslose Militanz des gemeinen Radfahrers aus der Innenstadt kennt.

Münster
Münster - City ohne Autos
Deshalb erstaunte uns sehr, wie gesittet die Radler in Münster unterwegs waren. Die Autofahrer wurden ersatzweise mit sinnfreien Regeln gegängelt. Parkplätze für Anwohner oder per Prepaid-Ticket mit einer maximalen Parkdauer von ein oder zwei Stunden. In die Tiefgaragen konnten wir mit dem gemieteten VW Caddy nicht einfahren. Die Decken waren zu niedrig. Deshalb stellten wir den 7-Sitzer auf einem Platz mit zwei Stunden Maximalzeit ab und liefen Richtung Altstadt.

In der autofreien City steuerten wir die Kirche St. Lamberti an. In einer dekorativen Anordnung hingen drei große Metallkäfige oberhalb der Turmuhr: Zeugnisse der Reformationszeit.

Reformation und Baptismus

Mit Luther erschienen auch die Wiedertäufer auf der Bildfläche. Das waren Theologen, die die Passagen über die Taufe und deren Bedeutung als bewusste Entscheidung für Tod und Leben mit Jesus im Römerbrief und weiteren Stellen des Neuen Testamentes praktisch umsetzen wollten. Wiedertäufer deshalb, weil fast alle ihre Zeitgenossen als Kind getauft worden waren. Eben nach den gesellschaftlichen Gepflogenheiten und nicht aus freier eigener Entscheidung.

Das Dogma der Baptisten gruppiert sich ebenfalls um eine Taufe als mündiger Christ. Ich hatte erlebt, dass Abendmahl, Mitgliedschaft oder Singen im Chor nur nach erfolgter Glaubenstaufe gestattet war. Bei den Methodisten, dem Mülheimer Verband oder anderen Denominationen sieht man das etwas lockerer: Kindestaufe wird praktiziert und anerkannt, auf Wunsch noch einmal getauft oder nach der bewussten Entscheidung erstmalig getauft.

Ein Historiker wurde im Radio gefragt, ob es für ihn nicht interessant wäre, Luther und andere Reformatoren im Bekanntenkreis zu haben. Ohne Denkpause verneinte er das und bemerkte, dass wohl keiner von uns längere Zeit mit diesen Personen der Zeitgeschichte auskommen würde. Es waren Extremisten in religiöser Hinsicht, die durch ihre extremen Ansichten und Handlungsweisen Vieles bewegt hatten.

Münster
Münster - St. Lamberti und die drei Käfige
Auch die drei Käfige zeugen von Extremismus während der Reformationszeit. Im Frühjahr 1534 hatten die Wiedertäufer unter Bernhard Krechting, Bernd Knipperdolling und Johann Bockelson - auch als Jan van Leiden bekannt - die Herrschaft in Münster übernommen. Zur Durchsetzung der neuen Erkenntnisse wurden auch Todesurteile gefällt und andere seltsame Dinge praktiziert. Knipperdolling fungierte dabei zunächst als Bürgermeister und dann als Scharfrichter.

Käfige

Münster schien damals gut befestigt gewesen zu sein. Die katholischen Gegner unter Bischof Franz von Waldeck mussten die Geburtsstadt der Kulturstaatsministerin ganze 16 Monate lang belagern und eroberten sie am 25. Juni 1535 zurück. Es wurde eine Kostenrechnung aufgemacht und Scharfrichter Knipperdolling machte den Vorschlag, die führenden Täufer in Käfigen zur Schau zu stellen. Dafür sollte Eintritt verlangt werden. Knipperdolling hatte wohl nicht damit gerechnet, das die Käfige tatsächlich für ihn und seine Mitstreiter gebaut werden.

Am 6. Januar 1536 wurden Knipperdolling, Krechting und Bockelson von einem Inquisitionsgericht in Wolbeck zum Tode verurteilt. Die Details der Hinrichtung ersparen wir uns an dieser Stelle. Erwähnt sei jedoch, dass die sterblichen Überreste - hier in ihrer ursächlichen Wortbedeutung - in die Käfige gepackt und am Kirchturm zur Schau gestellt wurden. Noch 50 Jahre später sollen Überreste zu sehen gewesen sein. Das war wohl Abschreckung genug für die Bevölkerung und mögliche Reformatoren.

St. Lamberti

Die Kirche St. Lamberti ist ansonsten ein normales großes Kirchengebäude mit einer angenehmen Atmosphäre im Inneren. Kein Hauch der blutigen Vergangenheit. Hier ein großer Leuchter, dort ein gemalter Kreuzweg und im Deckengewölbe das Lamm Gottes.

Heute gibt es eine Baptistengemeinde, Mennoniten (Brüdergemeinde), ein Christus Zentrum eine FEG und weitere evangelische Gemeinden in Münster. Diese sind weitläufig um den Domplatz mit den drei Körben angeordnet. Man kann dort sicher auch besser parken. Unsere Kulturstaatsministerin ist übrigens katholisch.

Sonntag, 6. August 2017

Stadtkirche Offenburg

Offenburg liegt ganz in der Nähe von Straßburg, also an der Grenze zum Elsass. Da wir zu wenig Französisch verstehen, fuhren wir kurzentschlossen über den Rhein und besuchten einen evangelischen Gottesdienst in der Stadtkirche Offenburg.



Eine knappe halbe Stunde brauchten wir von Straßburg bis ins Zentrum von Offenburg. Das Navi kannte den Weg. Direkt vor der Tür der Stadtkirche wurde ein Parkplatz frei. Zwei Kinder, zwei Omas, meine Frau und ich verließen das gemietete Mehrzweckfahrzeug. Die Sonne schien.

Gastfreundschaft

Während wir noch die hohe Außenfassade und die Inschriften studierten, kam ein sportlicher Best Ager und begrüßte uns freundlich. Zusammen mit ihm betraten wir die Kirche und bekamen sofort zwei Gesangsbücher in die Hand gedrückt. Ein weiterer Mitarbeiter gesellte sich dazu und fragte, ob jemand von uns bei der Fürbitte mitmachen wolle. Ich bemerkte kurz, dass wir nur zu Besuch seien. Das sei egal, wir könnten es uns noch überlegen.

Suchmaschinen-Optimierung

Wegen der Hörgeräte meiner Schwiegermutter wurde eine der vorderen Reihen angesteuert. Der Saal füllte sich mit etwa 60 Erwachsenen. Der Best Ager hatte sich einen Talar übergeworfen: Pfarrer Kühlewein-Roloff. Bei der Suche nach einem Gottesdienst in der Nähe unseres Urlaubsortes hatte meine Frau anhand der guten Internet-Bewertungen und der Facebook-Präsenz die Entscheidung zum Besuch der Stadtkirche Offenburg getroffen. Auch der Name Kühlewein-Roloff fiel mehrfach und wurde von unseren Gastgebern als empfehlenswert bestätigt.

Zwei Gesangsbücher und drei Lesezeichen

Drei Bänder waren am dicken Gesangsbuch angebracht. Diese wurden mit den ersten drei Zahlen an den Wandtafeln harmonisiert. Nach jedem Lied oder Psalm wanderten die Bänder weiter im Buch, so dass wir gut vorbereitet durch die Liturgie kamen. Das letzte Lied wurde aus dem dünnen Jugend-Liederbuch gesungen. Geschätzter Altersdurchschnitt: 55 Plus. Allerdings passte das nicht so recht zur frischen und sehr gepflegten Optik der Kirche. Ein Großteil der Mitglieder muss wohl auf Reisen gewesen sein.

Rück-Formung durch Herz-OP

Der agile Pfarrer setzte die Zuhörer kurz in Kenntnis, dass er heute vom Predigttext aus dem Losungsbuch abweichen werde und sprach dann über die Jahreslosung. Zur Mitte des Jahres könne man das ruhig einmal machen. Die Jahreslosung aus Hesekiel 36 Vers 26 besagt, dass Gott uns ein neues Herz und einen neuen Geist schenkt. Zunächst zerlegte der Referent das inflationär genutzte Wort Reformation und machte daraus eine Rück-Formung. Über diese Rück-Formung des Menschen in einen Zustand, wie ihn sich Gott vorgestellt hatte, baute er das Sprungbrett zur Herz-Transplantation. Mir war bisher gar nicht bekannt, dass Menschen mit einem physisch neuen Herzen plötzlich anders ticken können.

Café und Alleinstellungsmerkmale

Nach dem Gottesdienst begaben wir uns in das Café. Dieses ist auf der Westseite an das Kirchenschiff angebaut. Dort unterhielten sich die Omas mit einigen Senioren. Das Café sei sehr beliebt bei Mitgliedern und Gästen. Die Stadtkirche Offenburg hat zudem ein beneidenswertes Alleinstellungsmerkmal: Potenzial an Kindermitarbeitern aber zu wenige Kinder. Der Normalfall ist ja umgekehrt.

Bemerkenswert ist auch die Eingangstür zur Kirche. Dort ist das Glaubensbekenntnis in Form einer Topic Cloud eingeprägt. Freundlich, hell und integrativ sind Attribute, die mir nach dem Besuch der Stadtkirche Offenburg im Gedächtnis haften. Wer in der Nähe ist, sollte dort einmal vorbeischauen.

Samstag, 5. August 2017

Oberlin: Pastor handelt mit seinen Begabungen

Unseren Gastgebern zufolge wurde im Elsass so Einiges erfunden. Ihr Patriotismus stilisierte die Region schon fast zur Wiege der Menschheit. Auch Jean Frédéric Oberlin lebte im Elsass. Wir besuchten sein Museum in Waldersbach.



Es hatte sich eingeregnet. Deshalb setzte ich die beiden Omas, die patriotische Reiseleitung und den Rest der Familie direkt vor dem Eingang des Gehöftes ab. 50 Meter weiter wurde ein Parkplatz frei. Meine Mutter hatte bereits mehrere Vorträge über Oberlin gehalten. Die Senioren waren wohl darüber beeindruckt und hatten ihr eine Rose geschenkt.

Johann Friedrich Oberlin Museum
Johann Friedrich Oberlin Museum - Bild aus der Schublade
Aber wer war Oberlin?

Dem Namen nach gehört er eigentlich nach Preußen. Oberlin als französische Schreibweise von "Oh, Berlin" oder Abkürzung für Ost-Berlin wären glaubhafte Namensbezüge. Jean Frédéric Oberlin wurde am 31. August 1740 in Straßburg geboren und starb nach einem erfüllten Leben mit knapp 86 Jahren in Waldersbach. Jean Frédéric heißt auf Deutsch Johann Friedrich.

Im Elsass gibt es einen fließenden Übergang zwischen Deutsch und Französisch, was nicht ganz leicht für die Identitätsfindung ist. Deshalb betrachten sich Elsässer in einem Sonderstatus, vergleichbar mit der Volksgruppe der Spandauer am Stadtrand von Berlin.

Johann Friedrich Oberlin Museum
Johann Friedrich Oberlin Museum - Entwicklung des Beamers
Wirtschaft und Bildung

Bereits auf dem Weg hatte uns die begleitende Elsässerin mehrere Wirkungsbereiche von Oberlin gezeigt. Er habe dafür gesorgt, dass sich rentable Industriezweige in der ärmlichen Gegend ansiedeln. Er konnte durchsetzen, dass Brücken gebaut werden, damit die Kinder ohne Schwimmabzeichen nicht mehr in den Flüssen ertrinken.

Generell hatte er einen großen Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung und die Bildung in seiner Region. Unterstützt wurde er von Mitarbeiterinnen, die zu Fuß durch die umliegenden Ortschaften zogen und Wissen sowie Hilfe zur Selbsthilfe vermittelten.

Die ausgetretenen Stufen des Schulhauses von Waldersbach dokumentieren die hohe Frequenz an Schülern, die von Oberlin unterrichtet wurden. Sein privates Haus zwischen Kirche und Schule baute er erst, nachdem die Schule fertig war. Das nennt man Altruismus oder Philanthropie. Er war nicht nur an vielen Dingen interessiert. Er hatte auch die Gabe, andere Menschen mit diesem Interesse anzustecken und breites Wissen an seine Zeitgenossen zu vermitteln. Dadurch kamen gerade Kinder aus sozial schwachen Schichten in den Genuss von Bildung, die ihnen und den folgenden Generationen einen gesicherteren Lebensunterhalt ermöglichte.

Oberlin hat Teile der deutschen Pädagogik geprägt. Auf ihn werden die frühkindlichen Lehreinheiten durch spielerisches Erfassen von Wissen zurückgeführt.

Johann Friedrich Oberlin Museum
Johann Friedrich Oberlin Museum - Tuschkasten
Pastor kauft seine Lebenszeit aus

Bei so viel Effizienz dachte ich an das Berufsbild eines Unternehmers, Wissenschaftlers oder Politikers. Aber nein, Oberlin war Pastor! Im Museum war oft vom Pastor die Rede. Gemeint war damit Oberlin. Ein Pastor kam, sah und siegte.

Sein Lebenswerk erscheint im Rückblick vollmundig und komplett. Ein Mann, der seine Lebenszeit zum Bau des Reiches Gottes und zur Entwicklung seiner Gesellschaft genutzt hatte. Keine Minute schien er vergeudet zu haben. Er bewegte sich offensichtlich genau in den Bahnen, die Gott ihm vorgezeichnet hatte. Welch ein Vorbild, wenn ich es mit meinen Lebensabschnitten vergleiche.

Nachdem wir einige Dinge im Museumsladen gekauft hatten, schauten wir uns die benachbarte Kirche an. Alles sah so aus, als würde Oberlin gleich erscheinen und eine Predigt über Psalm 41 halten. Die Altarbibel war an dieser Stelle aufgeschlagen.

Sein Grab besuchten wir im Nachbarort und fuhren dann über die oben erwähnte Bettlerbrücke weiter zum nächsten Touristenpunkt. Diesmal römische Geschichte. Die Zeugnisse des Garten Edens waren durch die Sintflut weggespült worden. Sonst wäre uns das von den Gastgebern wohl auch noch als Geschichte des Elsass verkauft worden.

Sonntag, 16. Juli 2017

Zwei Degen und eine Zeitreise: Kirche Marzahn/Nord

Die Evangelische Kirchengemeinde Marzahn/Nord nutzt das letzte Kirchengebäude, das vor dem Ende der DDR eingeweiht wurde. Sehr spontan hatten wir uns für den Besuch des dortigen Gottesdienstes entschieden.



Meine Schwiegermutter hatte sich um 9:36 Uhr per WhatsApp zum Mitkommen angemeldet. Der Rest der Familie hatte andere Pläne. Zwei Freunde aus Marzahn kamen mit dem Fahrrad. Man musste sich bücken, wenn man den Seiteneingang zur Kirche nutzen wollte. Dieser war mit einem weißen Schlauch versehen, an dessen Anfang das heutige Datum stand. Eine Zeitreise ins Innere der Kirche.

Zugang durch den Tunnel

Da ich mich in der Kirche Marzahn/Nord nicht so gut auskannte, spähte ich in die verschiedenen Seitenräume des Ganges. Schließlich landete ich im Gemeindesaal. Die Wände waren mit Tüchern verhangen. Der Altarbereich wirkte königlich und antik mit silbernen und goldenen Tüchern sowie dunklen ehrwürdigen Vorhängen.

Meine Schwiegermutter hatte ich direkt vor der Tür abgesetzt und war dann noch mit der Parkplatzsuche beschäftigt gewesen. Offensichtlich hatte sie sich im Gang verlaufen und kam erst deutlich nach mir in den Saal. Um 10:30 Uhr begann der Gottesdienst mit einem alten Kirchenlied. Pastorin Dang gab eine kurze Einleitung und kündigte den bevorstehenden Einsatz von zwei Degen an: Monika und Rolf Dieter Degen.

Zwei Degen, 150 Psalmen und das Leben eines Königs

Monika platzierte sich unauffällig an der Technik während ihr Gatte uns auf eine Zeitreise mitnahm. Wir wurden etwa 3.000 Jahre zurück katapultiert. Der Hirtenjunge David saß am Tisch und schrieb Psalm 23. Er wolle sich erinnern und nichts vergessen von den großen Taten Gottes in seinem Leben. Rolf Dieter Degen rezitierte Ausschnitte aus vielen Psalmen und verband diese mit der Chronologie des Lebens von David. Scharfsinnig interpretierte er die Zusammenhänge der Geschehnisse im Leben des zweiten Königs von Israel.

Voll Spannung klebten die Zuhörer an seinen Lippen und den langsamen Bewegungen des Degens. Es waren um die siebzig Besucher erschienen. Das entsprach in etwa auch dem Durchschnittsalter.

Schilder, Bibeltexte, Bausubstanz

Nach einer Stunde, einem weiteren Lied, dem Vaterunser und dem Segen war der Gottesdienst zu Ende. Die Gemeinde wurde auf die Schleusinger Straße hinaus geführt, wo neue Tafeln mit Texten aus der Bibel aufgestellt waren. Auch die Künstlerin war dabei und wurde mit einem Blumenstrauß geehrt. Die Texte verbinden wichtige Aussagen aus dem Neuen und Alten Testament miteinander.

Das Gemeindehaus, der Garten und das Pfarrhaus machen einen sehr gepflegten Eindruck. Finanzielle Engpässe scheint es in Marzahn/Nord nicht zu geben. Im Garten staunten wir über die liebevoll angeordneten Tonfiguren und Tontafeln, die die 10 Gebote und biblische Geschichten darstellten. Ganz neu war die Bühne am Ende des Gartens - der Traum eines jeden Lobpreisleiters, der noch mit dem Fallstrick Selbstdarstellung kämpft.

Vor dieser Bühne gab es Eintopf mit Würstchen sowie Kaffee und Kuchen. Spontane Life-Musik mit Gitarre und Gesang untermalte das Essen und die Gespräche an den Tischen.

Gebückt durch die enge Pforte

Und dann war es endlich so weit: Die Akteure der Zeitreise hatten das Essen, die Gespräche, die Danksagungen und das Geschirr-Wegbringen erledigt und waren bereit zum Einsatz in der Historie.

Wieder liefen wir gebückt durch den Schlauch am Seiteneingang. Diesmal fiel mir auf, dass viele Personen der Geschichte mit Mitte fünfzig aus dem Diesseits geschieden waren. Sollte mir das zu denken geben? Mein Hausarzt hatte eine Reduzierung der Körperfülle empfohlen und dabei auf den Herzinfarkt mit Mitte vierzig verwiesen. Hatten alle diese berühmten Leute einen Herzinfarkt? Nein, einige waren wohl auch an der Pest gestorben.

Dann kamen wir zur ersten Station: Saul. Saul war nicht da. Scheinbar musste er noch Tassen in den Geschirrspüler räumen. Irgendwann erschien er. Er war ja schließlich der König. Freudig berichtete er über seine psychischen Probleme und die Beziehung zu David. Der Schrubber-Stiel in seiner Hand hatte am unteren Ende eine bedrohlich wirkende Spitze.

Paul Gerhard und zwei Unbekannte

Schnell gingen wir weiter - kurz über den Flur - 1.000 Jahre später in Jerusalem. Hier ging es um Petrus, der kurz vor der Verurteilung von Jesus plötzlich nicht mehr wusste, dass er mal mit Jesus durch die Gegend gezogen war. Es schloss sich eine Station mit dem weniger bekannten Johannes Agricola (1494 - 1566) an. Diesem folgte der bekannte Paul Gerhard (1607 - 1676) und der wiederum eher unbekannte Franz Theremin (1780 - 1846). Frau Dang konnte besonders viel über Franz Theremin, dessen Werk und Familie berichten.

Die Zeitreise sollte wohl eher am späten Abend durchgeführt werden. Beim Flackern der Kerzen entfalten die Kulissen bestimmt eine sehr realistische Wirkung.

Sonntag, 9. Juli 2017

Dorfkirche Marzahn wächst weiter

Vor einem halben Jahr wurde Lucas Ludewig als neuer Pfarrer in der Dorfkirche Marzahn begrüßt. Heute besuchten wir dort einen Gottesdienst.



Der gute Ruf als innovativer Vertreter des klerikalen Standes war Lucas Ludewig schon damals vorausgeeilt, nachdem er mit einem Star-Wars-Gottesdienst die Aufmerksamkeit der Presse auf die Zionskirche gelenkt hatte. Unsere Mutter und Schwiegermutter besuchen seit einiger Zeit regelmäßig die Veranstaltungen der Dorfkirche Marzahn. Auch sie sind vom Neuen in Schwarz begeistert.

Der Pfarrer mit dem gewinnenden Lächeln stand am Eingang der Kirche und begrüßte die Besucher. Ich skizzierte ihm kurz die familiären Zusammenhänge, als wir mit der geballten Verwandtschaft den rotbraunen Sakralbau betraten.

Heute wollten wir Lucas Ludewig mal predigen hören. Im Innenraum hatten sich etwa 80 Personen eingefunden. Damit war der untere Bereich fast komplett besetzt. Einige Besucher wichen auf die Empore aus. Der Kampf um angestammte Sitzplätze stellt seit Einführung von Pfarrer Ludewig eine immer größer werdende Herausforderung dar. Wir freuten uns über das deutliche personelle Wachstum.

Unsere Mütter begrüßten ständig ihre gleichaltrigen Freundinnen aus dem Seniorenkreis. Dann gab es noch einen Platzwechsel wegen der Hörgeräte und der Gottesdienst konnte beginnen. Orgelspiel, ein modernes Lied und dann die Ansagen des Pfarrers. Er werde heute nicht predigen, sondern die Bühne - also den Altarbereich - für die Kinder und Jugendlichen freigeben. Sie hatten ein Musical einstudiert.

Mit zunehmendem Alter nahm die Textsicherheit ab, selbst wenn nur ein Wort vorzutragen war. Die jüngeren Kinder schlugen sich dafür sehr gut, wobei schlagen wohl das falsche Wort ist, da es um Reformation und die Liebe Gottes ging. Es wurde viel gesungen und oft die Kleidung und die Kulisse gewechselt. Langer Applaus für die Kinder!

Nach Gebet, Abschlusslied und Segen wurde die Gemeinde zum Sommerfest eingeladen. Dieses startete unmittelbar nach dem Gottesdienst: Grillwurst, Hüpfburg, Kaffee und Kuchen.

Donnerstag, 1. Juni 2017

Patriarch von Konstantinopel trifft den Bundespräsidenten

Orthodoxie ist für viele Deutsche ein Buch mit sieben Siegeln. Zurzeit bereist Bartholomaios I unser Land. Heute referierte er in der Konrad-Adenauer-Stiftung und besuchte anschließend den Bundespräsidenten.



Die Gold-Else am Großen Stern reflektierte die pralle Sonne. Schwerfällig wälzte sich der Verkehr um den Platz. Ich lief zur Konrad-Adenauer-Stiftung. Akribisch wurde die Gästeliste abgeglichen. Wer nicht im "Buch" gefunden wurde, musste am Rand warten.

Schwarz

Ich setzte mich in die Nähe des Rednerpultes. In der Mitte des Saales sah ich Schwarz: schwarze lange Gewänder, schwarze Hüte, schwarze Mützen, schwarze und graue Bärte. Über den Gewändern goldene Ketten mit großen goldenen und Stein-besetzten Broschen. Keine Rapper aus Brooklyn, sondern Metropoliten, Archimandriten und der Patriarch selbst.

Das Casting für eine Komplettverfilmung der Bibel mit Abraham, Petrus und anderen wäre hier schnell und erfolgreich abgeschlossen worden.

Erzbistum und EKBO

Im Saal saßen neben den Botschaftern von Griechenland, der Türkei und Zyperns auch der katholische Erzbischof Heiner Koch aus Berlin und sein evangelischer Kollege Markus Dröge von der EKBO. Ein breites Grinsen ging regelmäßig durch die Reihen, wenn in den Grußworten die "Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz" in der Langversion ausgesprochen wurde.

Patriarch von Konstantinopel Bartholomaios I in Berlin
Ökumenischer Patriarch von Konstantinopel, Bartholomaios I, in Berlin



Grüß Gott!

Bartholomaios begann seinen Vortrag über Menschenrechte mit einem schwungvollen "Grüß Gott". Er hatte in München drei Semester Deutsch gelernt und las seine Rede fließend auf Deutsch vor. Es sah so aus, als hatte er nur fünf Blätter in der Hand. Gelesene Seiten gruppierte er unter den flachen Stapel. So oft, wie er die Seiten wechselte, müssen es um die zwanzig Blätter gewesen sein.

Seine Kollegen in Schwarz genossen den Sekundenschlaf oder beschäftigten sich mit ihrem Smartphone. Erzbischof Koch wechselte Blicke mit dem Apostolischen Nuntius des Heiligen Stuhls, Erzbischof Nikola Eterović. Dann kam ein langes Wort und der Patriarch warf spontan ein: "Zu lang!" Lachen. Der Saal war wieder in die Realität des Vortrages geholt. "Wenn ich ein bisschen müde bin, Sie müssen viel müder sein", war sein verständnisvoller Kommentar zum Vortrag.

Menschenrechte

Obwohl der Vortrag über Menschenrechte etwa eine dreiviertel Stunde gedauert hatte, war er doch sehr interessant. Mir war gar nicht bewusst, dass nicht-christliche Religionen eine große Distanz zu Menschenrechten hegen, denn:

  • Menschenrechte seien westliches Kulturgut.
  • Menschenrechte tragen das Siegel des Christentums.
  • Menschenrechte schützen einen gefährlichen Individualismus.
  • Menschenrechte stehen für Säkularisierung und Anthropozentrik.
  • Menschenrechte verbünden sich mit dem Atheismus.
  • Menschenrechte widerstreben der Souveränität Gottes.

Kein Wunder also, dass Menschenrechte außerhalb der westlichen Welt abgelehnt und missachtet werden. Die Botschafter verzogen keine Miene.

Orthodoxie

Die Magna Charta der Orthodoxie sei eine "Kultur der Person". Selbstlose Liebe könne ungeahnte Kräfte freisetzen. Er nannte das die "Liturgische Diakonie", was im Sinne einer alltäglichen Liturgie nach der sonntäglichen Liturgie zu verstehen sei. Der Patriarch wurde sehr emotional, als er sagte, dass die "defensive Haltung gegenüber der Aufklärung endgültig überwunden" werden müsse. "Fehlentwicklungen" in der Orthodoxen Kirche sollten auf keinen Fall zur pauschalen Verurteilung dieser Konfession genutzt werden. Eine große Baustelle sei die Ethnozentrik.

Patriarch von Konstantinopel Bartholomaios I in Berlin
Ökumenischer Patriarch von Konstantinopel, Bartholomaios I, in Berlin
Ökumene

Bartholomaios hat viele Titel, so dass seine späteren Gesprächspartner im Schloss Bellevue erst einmal abklärten, wie sie ihn genau anzusprechen haben. "Seine Allheiligkeit Batholomaios I, Ökumenischer Patriarch von Konstantinopel" ist der volle Titel. Bei der offiziellen Anrede wird "Eure Allheiligkeit" verwendet, während die Bischöfe wie säkulare Botschafter mit "Eure Exzellenz" angesprochen werden.

Die Ökumene im Titel ist vergleichbar mit der Wortbedeutung von katholisch und erklärt den übergeordneten Anspruch auf die Definition der Rechtgläubigkeit. Zurzeit findet jedoch ein intensiver Austausch zwischen Othodoxen, Katholiken und Protestanten statt. Letztere sehen Ökumene als Gemeinschaft von Christen jedweder Konfession um das Zentrum Jesus Christus und die Bibel. So wurde es auf dem #Kirchentag ausgedrückt.

Der Patriarch im Schloss

Anschließend wurden die Herren in Schwarz mit schwarzen BMW 5er-Limousinen zum Bundespräsidenten ins Schloss Bellevue gefahren. Kein Ehrenposten, keine militärischen Ehren, kein roter Teppich. Dafür aber ein blauer Teppich und eine sehr familiäre Atmosphäre. Vier Kameraleute, ein Gästebuch und eine vertrauliche Unterredung mit Frank-Walter Steinmeier. Diese war nicht presseöffentlich.

Bei immer noch strahlendem Sonnenschein staute ich durch die Innenstadt nach Hause.

Sonntag, 28. Mai 2017

#Kirchentag: Abschluss-Gottesdienst in Wittenberg

Heute fand auf den Elbwiesen südlich von Wittenberg der Abschlussgottesdienst zum #Kirchentag statt. Unsere Schlafgäste aus England, der Bundespräsident und ich waren auch dort.



122 km mehr standen auf dem Tacho, als ich das Auto in einem Wohngebiet der Lutherstadt Wittenberg abstellte. Die überall angekündigten Park-Leitsysteme fehlten. Wir liefen nach Gefühl Richtung Elbe. Dabei durchquerten wir die Innenstadt mit den wichtigsten Luther-Gebäuden. Kurz vor der Elbe stellten wir fest, dass wir noch einen großen Umweg über eine Bahnbrücke zu absolvieren hätten.

30°C und eine Stunde Fußweg

Es dauerte eine volle Stunde vom Parkplatz bis zum Ziel: Umweg, Schleuse für den Sicherheits-Check, Ponton-Brücke, Eingang an der Südseite des Feldes. Letzteres bedeutete, dass wir einmal am Feld vorbei und dann innen wieder zurück laufen mussten. Solche Aktionen waren uns schon von der Messe vertraut. 30°C. Die ersten Sanitäter liefen mit Tragen über die Wiese.

#Kirchentag Abschlussgottesdienst Wittenberg Elbwiesen
#Kirchentag - Abschlussgottesdienst in Wittenberg auf den Elbwiesen
Ich verabschiedete mich von unseren englischen Schlafgästen und stapfte der Bühne entgegen. In der dritten Reihe fand ich noch einen Platz. Passend zu den vielen Sanitätern und Hitzschlag-Gefährdeten war Gesundheitsminister Gröhe bereits vor Ort. Er trug kein Sakko, aber Krawatte und einen orangen Schal. Kurz vor Beginn des Gottesdienstes gesellte sich Innenminister de Maizière dazu. Auch er war sehr sommerlich gekleidet.

Nach dem Vorbild des Neuen Testamentes saßen in den Blöcken direkt vor der Bühne nicht nur die Ersten aus Kirche und Staat, sondern auch Lahme, Blinde und Taube.

Gleich geht es los!

Ein letztes Statement vom Chef der koptischen Christen aus Ägypten. Dann eine kurze Pause; herzliche Umarmung des schwarz gekleideten Kopten mit Hermann Gröhe und anderen; freundliche Begrüßung eines katholischen Bischofs.

#Kirchentag Abschlussgottesdienst Wittenberg Elbwiesen
#Kirchentag - 1/7 der Bläser beim Abschlussgottesdienst in Wittenberg auf den Elbwiesen
Hinter der Bühne blinkten hunderte Blasinstrumente und stimmten "Nun jauchzt dem Herren, alle Welt" an. Gigantisch! Posaunen, Pauken - so ähnlich muss das im Himmel sein, wenn die Ankündigungen aus der Offenbarung greifbare Realität werden. Als ich noch über die Zukunft vor dem Thron Gottes sinnierte, schritt der Bundespräsident neben der Bühne entlang und ging zu seinem Platz im Nachbarblock. Auch seine Frau - Elke Büdenbender - und jede Menge Fotografen waren dabei.

Predigt auf Englisch über 1. Korinther 13, 12

Der Gottesdienst nahm seinen Lauf. Liturgie mit Liedern, Gebet, Lesung aus 1. Korinther 13, Glaubensbekenntnis und Kollekte bildeten den Auftakt. In der Predigt sollte es laut Programmheft um 1. Korinther 13, 12 gehen: "Von Angesicht zu Angesicht". Es predigte Erzbischof Thabo Makgoba von der Anglikanischen Kirche Südafrikas. Als Schwarzer sprach er Englisch mit afrikanischem Akzent. Wer kein Englisch verstand, konnte auf dem linken Screen deutsche Untertitel und eine Übersetzung in Gebärdensprache sehen. Die rechte Videowand stand für das unkommentierte Original zur Verfügung. Viele der aus "Bade-Würte-Berg" stammenden Sitznachbarn konnten nur Deutsch.

So rauschte die Predigt an ihnen vorbei. An mir auch. Die Predigt hatte mit Martin Luther begonnen und lief über die allgemeine Ungerechtigkeit in der Welt in einem postulierten "I have a dream" aus.

#Kirchentag Abschlussgottesdienst Wittenberg Elbwiesen
#Kirchentag - Abschlussgottesdienst mit Abendmahl
Viel spannender war also das Drumherum. Dazu gehörten die immer wieder einsetzenden Bläser hinter der Bühne - wie schon erwähnt: Hunderte! Bewegend auch das gemeinsame Vaterunser, das gemeinsame Abendmahl und der Segen von EKD-Chef Bedford-Strohm im wehenden schwarzen Gewand. Die Sonne blitzte in das Kreuz über dem Talar und tauchte es in einen goldenen Glanz.

Einheit in Jesus Christus

Der Altar war eine Leihgabe des Deutschen Katholikentages. Überhaupt zeigten sich die katholischen Gastredner sehr erfreut über die guten Beziehungen zu den Protestanten. Das sei vor zehn Jahren noch nicht so selbstverständlich gewesen.

Frank-Walter Steinmeier begrüßte die Besucher mit "Liebe Schwestern und Brüder" und zeigte sich ebenfalls hoch erfreut darüber, dass die Christen unterschiedlicher Konfessionen und Denominationen auf einem guten Weg zur Bündelung ihrer Kräfte seien. Das solle weiter intensiviert werden. Der Bundespräsident war selbst viele Jahre lang aktiv an den Evangelischen Kirchentagen beteiligt. Ein katholischer Redner brachte es auf den Punkt: Uns verbindet die Einheit in Jesus Christus.

#Kirchentag Abschlussgottesdienst Wittenberg Elbwiesen
#Kirchentag - Abschlussgottesdienst mit Segen von Heinrich Bedford-Strohm
Gegen 14:00 Uhr nutzte ich den VIP-Ausgang neben der Bühne und wollte möglichst vor dem großen Abgang den Hot Spot verlassen. Immer noch um die 30°C und pralle Sonne. Vorbei an etwa zwanzig schwarzen Limousinen mit Blaulicht, vorbei am Pressezelt, vorbei an vielen Polizeiautos, durch einen hohen Gitterzaun, hinaus auf das freie Feld. Es dauerte etwa eine halbe Stunde, bis ich die Pontonbrücke passiert und die Strecke über die Bahnlinie absolviert hatte.

Das Auto war extrem aufgeheizt. Ich entfernte die Decke über dem Lenkrad und trat den Heimweg an. 29,5°C war neben dem Tacho abzulesen. Unsere britischen Gäste hatten noch eine Verabredung in Wittenberg. So fuhr ich die 122 km alleine mit aufgedrehter Musik nach Hause.

Donnerstag, 25. Mai 2017

#Kirchentag: Messe Berlin und City

Der 36. Deutsche Evangelische Kirchentag wartet mit vielen Veranstaltungen in Berlin, Wittenberg, Potsdam und Leipzig auf. Heute schauten wir uns auf dem Messegelände am Funkturm und am Alexanderplatz um.



Die Entscheidung für den öffentlichen Nahverkehr fiel heute leicht. Bequem erreichten wir die Nordseite des Messegeländes, liefen an schwer bewaffneten Polizisten vorbei, lehnten Flyer dubioser Gruppen ab und betraten das Palais am Funkturm. Hier, wo seit Jahren die goldenen Lolas an Filmschaffende vergeben werden und wilde After Show Partys toben, flatterten heute orange Schals und orange Fahnen mit großen runden Augen.

Wahrheit vor der Kamera

Wir steuerten die Bühne an und setzten uns in die dritte Reihe. Der Innenminister diskutierte vor laufenden Kameras des ZDF über Wahrheit. Thematisch entglitt das Ganze in Richtung Medienkompetenz, Shit Storm und juristische Optionen. Es wurde kontrovers diskutiert, enthielt aber für alle Teilnehmer des Panels wertvolle Impulse. Alle waren sich einig, dass gegenteilige Meinungen durchaus erwünscht seien, jedoch sollte der Diskurs in einer respektvollen Atmosphäre geführt werden.

#Kirchentag
#Kirchentag - Sitzplätze in den Messehallen
Leere, Pilgerweg und Seelsorge

Anschließend unternahmen wir den Versuch, uns systematisch von Nord nach Süd durch die Messehallen zu arbeiten. Die ersten Hallen waren etwas spartanisch eingerichtet. Hier und dort ein vereinzelter Stand, dann eine ganze Halle als Pilgerweg. Die übliche Optik schillernder Messebauten mit Jutebeuteln und Kugelschreibern begegnete uns nicht. Wir kauften zwei Pizzabrote und liefen weiter.

Eine ganze Halle für Seelsorge: Paarberatung, Einzelberatung, Gebetskabinen, Wartelisten. Interessant, woran beim Kirchentag gedacht worden war. Die Population wurde dichter. Immer mehr orange Schals und Beutel mit DEKT-Aufschrift kamen uns entgegen. Eine jung gebliebene Dame hatte sich einen grauen Hoodie im Kirchentags-Look zugelegt. Zwei großen Augen schauten mich von ihrem Rücken aus an.

Markt der Möglichkeiten

Wir näherten uns den eigentlichen Messeständen und fanden uns plötzlich in einem wilden Durcheinander wieder. Das heißt, über einigen Ständen waren Tafeln mit Kategorien angebracht. Allerdings erschloss sich die Zusammenstellung nicht wirklich unserer Logik.

Hier eine Israel-Ecke, dort Freizeitheime, hier Hospitalschiffe und dort die Bundespolizei; Bücher, Verlage, Bibelschulen, Missionsgesellschaften, Godly Play, Nagelkreuz-Verein, Verein der ostpreußischen Ostkirche und interreligiöse Stände. Dazwischen noch Aktionen gegen Menschenhandel, Podiumsdiskussionen, Pfadfinder, die Internetmission, die Christoffel Blindenmission, die Jesuiten, christliche Berufsperspektiven und World Vision.

#Kirchentag
#Kirchentag - Du siehst mich.
Mitglieder und Spender

So muss Luther Rom erlebt haben: Spende für Kaffee, Spende für den Verein, ein Euro für den bedruckten Radiergummi, eine Unterschrift gegen die Bundeswehr und hier noch das Formular zum Eintritt in einen Förderverein. Wären wir auf all diese Wünsche eingegangen, hätte uns das viel Geld gekostet und rein rechnerisch täglich zur Teilnahme an mehreren Jahreshauptversammlungen verpflichtet. Die Vielfalt ist schön und bunt, könnte aber sicher auch gebündelt und damit effizienter gestaltet werden.

"Christ und nicht hetero", lasen wir an einem Stand, der uns auf die Umwidmung des Regenbogens einstimmte. Beim nächsten Anbieter mussten wir erst einmal schauen, in welchem Kontext der Regenbogen dort genutzt wurde. Aha, Holzspielzeug für Kinder. Überhaupt wirkten die Besucher wenig heterogen. Wer "kirchlich" ist, offenbart sich durch ein wesentliches Merkmal:

Die Brille.

Es muss ein Modell im dreistelligen Preissegment sein. Dazu graue oder weiße Haare. Frauen tragen das Haar maximal schulterlang und Männer zusätzlich einen kurzen Bart. Sportliche Ökokleidung und gepflegtes Äußeres, kombiniert mit einem intelligenten Blick runden den homogenen Kirchgänger ab. Was wir bisher nur instinktiv kategorisiert hatten, notierte ich auf einem Zettel und evaluierte es im weiteren Verlauf des (Kirchen-)Tages.

#Kirchentag
#Kirchentag - Marienkirche am Alexanderplatz (Foto: Archiv 27.06.2017)
Alexanderplatz

Am Abend schauten wir uns mehrere Musikveranstaltungen rund um den Alexanderplatz an. Mit geschärftem Blick erkannten wir die DEKT-Teilnehmer auch ohne den markanten orangen Schal. Eine Band aus dem Libanon fiel jedoch durch das kulturell-ethnische Raster. Die Rocker hätten auch als Europäer oder Amerikaner durchgehen können. Fasziniert lauschten wir ihrer musikalischen Darbietung. Ein Schwarzer tanzte, Frauen mit Kopftüchern blieben stehen und EKD-Mitglieder offenbarten ihr Rhythmus-Gefühl.

Im benachbarten Bücherzelt kauften wir eine Twitter-Bibel. In der Marienkirche lauschten wir dem Konzert von Einheimischen und Geflüchteten: Klassik auf höchstem Niveau aus einem Mix europäischer und nahöstlicher Klänge und Gesänge.

Auf dem Rückweg mit der Tram setzten sich zwei ältere Damen zu uns. Den Zweck ihres Berlin-Besuchs erkannten wir an den Brillen und den schulterlangen grauen Haaren.

Mittwoch, 24. Mai 2017

#Kirchentag: Eröffnungs-Gottesdienst am Reichstag

Sehen und gesehen werden bei der Eröffnung des 36. Deutschen Evangelischen Kirchentages #DEKT. Wer und was war alles beim Gottesdienst am Reichstag und dem anschließenden Empfang beim Evangelischen Arbeitskreis der CDU/CSU zu sehen?



Es muss schon eine charismatische Persönlichkeit sein, die mehrere tausend Erwachsene zu seltsamen Handbewegungen anstiftet: Eckart von Hirschhausen. Beim Gottesdienstes zur Eröffnung des #DEKT motivierte er die Teilnehmer, mit ihren Händen ein Fernrohr zu formen und einen beliebigen Punkt in der Umgebung zu fixieren. Ich ließ mein Fernrohr von der Ministerbank zum Dach der Bühne schweifen und blieb dort haften: ein Dach über vielen Christen aus vielen Gemeinden und Konfessionen.

Sehen und gesehen werden

Als Hagar in 1. Mose 16, 13 - frei übersetzt - "Du siehst mich" sagte, wusste sie noch nicht, dass 4.000 Jahre später ein Kirchentag unter diesem Motto stattfinden wird. Im Bereich vor der Bühne galt jedenfalls das "Sehen und gesehen werden". Wolfgang Thierse, Christian Wulff, Franz Josef Jung, Hermann Gröhe, Petra Pau, Thomas de Maizière und Norbert Lammert sahen sich und andere Personen in ihrem Umfeld. Dazu gehörten Eckart von Hirschhausen, Friede Springer, Martin Pepper und jede Menge unbekannter Kirchenvertreter, die sich alle kannten. Letzteres war daran zu erkennen, dass sie sich sehr herzlich grüßten, als sie sich sahen.

#Kirchentag Reichstag Eröffnungsgottesdienst
#Kirchentag - Eröffnungsgottesdienst vor dem Reichstag
Du siehst mich ab 18:00 Uhr

Der Gottesdienst vor dem Reichstag startete um 18:00 Uhr. Immer wieder schallten Klänge vom Parallel-Gottesdienst am Brandenburger Tor herüber. Die eigentliche Musik spielte aber hier auf dem Platz der Republik:

Die Zuschauer sahen und hörten unter anderem den Landesbischof Heiner Koch. Als Katholik machte er sich stark für die Zusammenarbeit von evangelischen und katholischen Christen in der Stadt. Es gebe mehr Christen in Berlin, als wir denken. Eine Aussage, die ich nach dem Besuch von weit über 70 Gemeinden bestätigen kann.

Sehr positiv wurde auch der Erzbischof von Canterbury, Justin Welby, aufgenommen. Ausgehend vom Nagelkreuz, das er sichtbar über seinem schwarzen Gewand trug, predigte er über Jesus und "Eine feste Burg ist unser Gott". Diesen Satz zitierte er mehrfach auf Deutsch. Der Rest wurde von der Bühne aus übersetzt.

Mit "Schwestern und Brüder" begrüßte Norbert Lammert die Gottesdienst-Besucher und redete davon, dass Christen sichtbar sein sollten - auch im Alltag. Überhaupt blieb der gesamte Gottesdienst am Thema "Sehen": Mitmenschen wahrnehmen, in die Augen sehen, etwas sehen, übersehen, herabsehen, Gott sehen, von Gott gesehen werden.

#Kirchentag Reichstag Eröffnungsgottesdienst
#Kirchentag - Eröffnungsgottesdienst vor dem Reichstag - Predigt des Erzbischofs von Canterbury
Ich sehe einen Parkplatz und die Kanzlerin

Als ich zum Auto zurückkam, sah ich ein Ticket: 10 Euro. Behutsam entfernte ich es und fuhr zur CDU-Bundesgeschäftsstelle. Das war gar nicht so einfach. Die City war weiträumig abgesperrt. Ich parkte am Großen Stern und lief die 600 Meter zum Konrad-Adenauer-Haus.

Dort sah ich weitere Bekannte: Angela Merkel, EKD-Chef Heinrich Bedford-Strohm, Erhart Zeiser und Allianz-Primus Ekkehart Vetter. Eckart von Hirschhausen und Norbert Lammert standen neben mir und folgten dem Grußwort der Kanzlerin, die sich über den wachsenden Mut zum Outen als Christ redete. Ursula von der Leyen sah ich nicht, dafür aber die Kirchentags-Präsidentin Christina Aus der Au. Die Schweizerin mit dem starken fränkischen Akzent hatte schon beim Gottesdienst einen sehr sympathischen Eindruck hinterlassen.

Wir sehen die zu spät Kommenden

Wegen der oben erwähnten Verkehrssituation kamen fast alle Altvorderen zu spät, also die Personen, die in der ersten Reihe neben der Kanzlerin und Peter Tauber sitzen durften. Peter Tauber hätte ich nach dem Gottesdienst am Reichstag fast eine Mitfahrgelegenheit angeboten. Sein nächstens Ziel war absehbar.

Auch Erzbischof Welby mit dem Nagelkreuz und Landesbischof Bedford-Strohm kamen zu spät. Bedford-Strohm ist dafür bekannt, seinen Halsschmuck auf den Anlass anzupassen. Statt eines Kreuzes trug er heute einen DEKT-Schal. Sein Grußwort war frei gesprochen und zeigte, dass er auch Latein kann: Dreimal wiederholte er mit den Worten "homo incurvatus in se ipsum", dass der Mensch verkrümmt in sich selbst sei. Diese Verkrümmung könne sich nicht nur in Sünde äußern, sondern auch in einem um sich selbst Drehen. Das gelte für Einzelpersonen und ganze Gemeinden. Applaus.

Siehe, ein D!

Immer wieder grüßten mich völlig unbekannte Leute. Einer davon raunte mir in vertraulichem Ton zu: "Essen gibt's oben". Oben wurden die Gäste mit belegten Broten, Wein, Bier und anderen Getränken versorgt. Gemeinsam mit Allianz-Chef Ekkehart Vetter wurde die Demokratie einer Belastungsprobe unterzogen. Wir lehnten uns gegen das zwei Meter hohe D des CDU-Schriftzuges. Es gab nach und rutschte Richtung Fenster. Wir stellten den Buchstaben an seinem ursprünglichen Ort und wechselten den geografischen Standpunkt.

Am Ende des Ganges wurden Eierkuchen gebacken. Ich bekam einen in Form des CDU-Schriftzuges. Sollte das mein Gewissen herausfordern? Keine Ahnung. Ich tauchte die drei Buchstaben in rote Fruchtsoße und verspeiste das D zum Schluss.

Apropos rote Fruchtsoße: Die Kanzlerin hatte den EKD-Ratsvorsitzenden trotz seiner politischen Orientierung sehr herzlich begrüßt und dann von der Kanzel aus bemerkt, dass sie die geschwisterliche Gemeinschaft über Parteigrenzen hinweg genieße. Am Promi-Tisch saß Angela Merkel dann jedoch neben dem Briten mit dem Nagelkreuz.

Samstag, 6. Mai 2017

Sohn Jonas interviewt Heinrich Bedford-Strohm

Heinrich Bedford-Strohm ist Ratsvorsitzender der EKD und auch im Rahmen des bevorstehenden Kirchentages immer wieder im Gespräch. Seine Persönlichkeit und theologischen Ansichten werden in einem etwa 200-seitigen Interview transparent.



Heinrich Bedford-Strohm hatten einige meiner Gesprächspartner erst zum Jahreswechsel wahrgenommen: Spiegel-Online hatte ihn bezüglich einer Dienstreise in die öffentliche Diskussion gebracht. Anschließend tauchte er im Zusammenhang mit Dynamissio und dem Kirchentag auf. Er ist bayerischer Landesbischof und Ratsvorsitzender der EKD.

Heinrich Bedford-Strohm?

Um die Ansichten des Mannes aus dem Süden kennen zu lernen, bestellte ich das Buch "Wer's glaubt, wird selig". Darin führt Sohn Jonas ein Interview mit seinem Vater Heinrich.

Titel und Umschlaggestaltung lassen auf ein Mittel zur Insomnie-Behandlung schließen. Dennoch kann man die 192 Seiten flüssig in etwa acht Stunden durchlesen und lernt die beiden Autoren kennen. Der Frage-Antwort-Stil lockert den Inhalt auf. Dadurch sind Lesepausen jederzeit möglich.

Das Buch ist in acht Schwerpunkte unterteilt. Neben Glück, Spiritualität, Religionen und Tod werden auch die Basics Gott, Jesus, Bibel und Kirche behandelt.

Jonas und Heinrich Bedford-Strohm
Jonas & Heinrich Bedford-Strohm - Sohn interviewt Vater


Offen und ehrlich

Das Gespräch zwischen den Generationen wird offen, ehrlich und gelegentlich etwas provokativ geführt. Die Argumentationslinien sind schlüssig und vermitteln ein umfangreiches Bild über die Theologie des Vaters und die Lernziele des Sohnes. Der Leser erfährt, dass der Sohn durch einen längeren Aufenthalt in Südafrika geprägt wurde und der Vater als Doktor der Theologie schnell und kompetent auf kritische Themen antworten kann.

Glauben und Theologie

Ein Großteil der Amazon-Rezensenten bescheinigt dem Buch einen Mehrwert in Glaubensfragen. Es gibt aber auch Stimmen, die die Ansichten des EKD-Chefs als überholt einstufen. Für mich brachte das Buch keine neuen theologischen Erkenntnisse.

Die Jungfrauengeburt und den Schöpfungsbericht bewertet der Landesbischof durch eine historisch kritische Brille. An der Auferstehung von Jesus zweifelt er nicht. An vielen Stellen des Buches wird deutlich, dass er eine aktive Beziehung zu Jesus pflegt, regelmäßig betet und sich durch die Bibel korrigieren lässt. Das stellt einen gewissen Spagat zwischen moderner Theologie und Anspruch des Wortes Gottes dar. Er kann damit offensichtlich gut umgehen und ruht faktisch in seinem christlichen Glauben.

Bibel und Interessenten

Auch wenn der Ratsvorsitzende zum Bibelstudium die Verwendung mehrerer Übersetzungen oder gar des Urtextes rät, legt er die Latte sehr tief an. Es schimmert durch, dass er die Mitglieder seiner Kirche eher auf dem Niveau der Kinderbibel sieht. Er empfiehlt zunächst ein Vorlesen der bunten Light-Versionen im Beisein der lieben Kleinen. Wer mehr über die Bibel lernen wolle, könne Theologie studieren. So habe er es gemacht und auch sein Sohn.

Wegen der finanziellen Ausstattung der EKD sei es nicht dramatisch, dass immer weniger Zuhörer im Gottesdienst sitzen. Es gingen nach wie vor mehr Menschen am Sonntag in die Kirche als ins Fußball-Stadion. Die mediale Berichterstattung verfälsche dabei die Wahrnehmung. An der Gottesdienstform sei nicht zu rütteln. Kirchenferne Interessenten sollten sich auf die traditionellen Formen einstellen und im Laufe der Zeit von selbst deren Wert erkennen.

Armut und Dienstwagen

Vater Heinrich ist ein begeisterter Anhänger von Wertschätzung, Dialog und Gewaltlosigkeit. Auch gesellschaftlich benachteiligte Menschen oder Armut stehen in seinem Fokus. Das stützt er auf das Doppelgebot der Liebe zu Gott und den Mitmenschen.

Bei Kirchensteuer und Dienstwagen bohrt der Sohn nach. Beides beantwortet sein Vater ausführlich. Ob ein BMW 5er aus dem 200-PS-Segment als "dicke Limousine" zu bezeichnen ist, sei mal dahingestellt. Immerhin freut sich der bayerische Würdenträger daran, dass er einen Arbeitsplatz für den Fahrer schaffen und selbst effektiv die Reisezeit nutzen könne. In regelmäßigen Bewertungen kirchlicher Amtsfahrzeuge schneidet Bedford-Strohm seit mehreren Jahren als ökologisches Vorbild ab.

Zu Macht und deren Missbrauch werden im Buch vorrangig Beispiele aus Südafrika, der NS-Zeit oder der christlichen Mission gebracht. Die evangelische Kirche stehe heute im aktiven Gespräch mit ihren Mitarbeitern und Mitgliedern. Missstände gehe man schnell und auf Konsens orientiert an. Eine ermutigende Aussage, deren Umsetzung wir an dieser Stelle nicht evaluieren können.

Islam und Homophobie

Einige Themen scheinen Jonas besonders wichtig zu sein. Dabei verwandelt er seine Position als Fragesteller schon fast in die eines Ko-Referenten. Sehr emotional wird er bei Homophobie, Islamkritik und christlichem Fundamentalismus. Dem Grundtenor des Buches folgend ist damit wohl das freikirchliche Parallel-Universum gemeint.

Homosexualität müsse laut Vater Heinrich im historischen Kontext bewertet werden. Dieser sei heute nicht mehr gegeben.

Der von Wertschätzung geprägte Gedankenaustausch mit dem Islam ändere nichts am christlichen Selbstwertgefühl des Landesbischofs. Beim Lesen des Korans habe er nach den ersten Suren den Eindruck gewonnen, "das Werk eines Propheten zu lesen". Er formuliert Absichtserklärungen zum Diskurs mit islamischen Wissenschaftlern und Imamen. Auf diesem Wege sollten "die gewaltfreien Traditionen des Korans wiederentdeckt werden". Ein sportliches Ziel, das eine historisch kritische Herangehensweise an eine Religion voraussetzt, die keine Epoche der Aufklärung durchlaufen hatte.

Glück und Segen

Beachtlich fand ich das Kapitel über Glück. Darin nähert sich Bedford-Strohm von einer sehr persönlichen Seite der Standardfrage an: "Warum lässt Gott das Leid zu?" Er hat wohl Römer 8 Vers 28 verinnerlicht und trägt die schweren Situationen des Lebens in der Kraft seiner Beziehung zu Jesus. Auch das Kapitel über Tod offenbart eine hohe seelsorgerliche Empathie und einen liebevollen Umgang mit Menschen, die in Lebenskrisen Hilfe bei ihm suchen.

Stilistisch gelungen fand ich den Ausklang des Buches, wo der Vater dem Sohn, die einzelnen Verse des Vaterunsers erklärt und dann das Buch mit "Amen" und einem kurzen Nachwort beschließt.