Donnerstag, 27. Dezember 2018

Kawohl rettet die Familienfeier

Ein kleines Kästchen mit Frage-Karten kann Flauten und peinliche Richtungen der familiären Kommunikation korrigieren helfen. An den Weihnachtstagen haben wir das getestet.



Im November stand der 70. Geburtstag meiner Schwiegermutter auf dem Programm. Sie hatte uns dazu in ein Restaurant in Charlottenburg eingeladen. Brunch von 13 bis 16 Uhr. Drei lange Stunden, in denen ich mich politisch korrekt verhalten musste. In der ersten Stunde gelang mir das sehr gut. Abgesehen vom antizyklischen Vorgehen am Buffet. Es war dort aber wirklich sehr voll. Nach einer Stunde ununterbrochenen Essens war ich so satt, dass ich auf dem bequemen Sitz nach unten rutschte und wohl etwas zu laut gähnte. Beides passiert mir wohl auch in Gottesdiensten, wenn der Redner nicht zum Punkt kommt.

Kritik und Lösung

Dieser Vorfall hatte Konsequenzen. In der nächsten Familienkonferenz stand mein unpassendes Verhalten auf der Agenda. Drei ernste Augenpaare waren auf mich gerichtet. Ich wurde gefragt, ob ich das bei beruflichen Anlässen auch so mache. Keine Kritik ohne Lösungsvorschlag: Meine Frau meinte, es gäbe ein Kartenspiel mit Fragen. Damit könne man das Gespräch ankurbeln und lerne die Anwesenden besser kennen. Die Karten seien bereits bestellt.

Als wir weitere Details wissen wollten, wurde meine Frau plötzlich sehr wortkarg. Was hatte sie zu verbergen? Wir bohrten weiter und dann gab sie kleinlaut zu: Die Karten seien von Kawohl. Breites Grinsen entfaltete sich auf unseren Gesichtern und gleichzeitig Skepsis. Kawohl ist doch der Verlag, dessen Bildsprache diametral mit dem abgedruckten Text harmoniert. Ein rein fiktives Beispiel wäre das Foto einer alpinen Schneelandschaft kombiniert mit dem Spruch "Herr, deine Liebe ist wie Gras und Ufer". Wenn wir in Gemeinderäumen große Plakate sehen, bei denen Bild und Text lediglich in einem farblichen Verhältnis zueinander stehen, ist ohne weitere Prüfung klar: Es handelt sich um ein echtes Kawohl.

Kunststoff-Box mit Frage-Karten

Wir waren gespannt. Bald traf das Päckchen ein und ich durfte die Karten auspacken. "Erzähl mir von Dir" enthält 62 Frage-Karten, die in einer stabilen Kunststoff-Schachtel aufbewahrt werden. 62 Fragen, die das Gespräch innerhalb der Familie ankurbeln können. Kein Kawohl ohne Bild. So wurde für dieses Spiel ein Familien-Foto eingekauft, das an zentraler Stelle ein auffälliges Dekolleté der vermeintlichen Mutter darstellte. Vater, Kinder und Großeltern waren nicht ganz so sommerlich bekleidet. Abgesehen vom Deckblatt, wird das Dekolleté auf den anderen Karten durch den Fragetext kaschiert.

Spielregeln gibt es nicht. Irgendwer zieht eine Karte und beantwortet sie selbst oder gibt sie an seinen Nachbarn weiter oder alle antworten auf die Frage. Die Erfahrung der letzten Tage zeigt, dass eine Frage ausreicht, um ein längeres Gespräch in Gang zu setzen. Gelegentlich muss moderierend eingegriffen werden. Im Großen und Ganzen überbrückt es aber die üblichen Pausen. Steht die Box griffbereit auf dem Tisch, kann jederzeit eine neue Frage in die Runde geworfen werden.

Familie im Gespräch

Schwager, Schwägerin, Omas, Kinder, meine Frau und ich mussten uns mit Fragen wie "Wer beeinflusst deine Zukunft?", "Wessen Zukunft beeinflusst du?", "An welchen Geruch aus der Kindheit erinnerst du dich?", "Mit wem würdest du dich gerne mal zwei Stunden unterhalten? Warum?", "Was war deine beste Entscheidung des letzten Jahres?" oder "Welche Eigenschaften deiner Eltern entdeckst du an dir?" auseinandersetzen. Keine Antwort ist auch eine Antwort.

Jedenfalls kommen Dinge zur Sprache, über die man bisher noch nie mit der Familie geredet hat. Vielleicht hat man sich darüber selbst noch nie Gedanken gemacht. Das Spiel regt Denkprozesse an, die noch weit über das Treffen hinaus gehen und Anknüpfungspunkte für weitere Unterhaltungen bieten. Die Karten eignen sich auch für Zusammenkünfte mit Freunden und Kollegen. Die Anwesenden müssen keine Christen sein, da die Fragen persönlich, aber nicht unbedingt geistlich, gehalten sind.

Nach unserem Selbsttest an den drei Weihnachtstagen können wir den Kauf der kleinen Box sehr empfehlen.

Mittwoch, 26. Dezember 2018

Suche Frieden und jage ihm nach! Psalm 34, 15 b

Das Los der Herrnhuter Brüdergemeine für das Jahr 2019 fiel auf die Psalmen. In Psalm 34, 15 steht die Jahreslosung, die allgemein mit "Suche Frieden und jage ihm nach!" wiedergegeben wird.



Mitte Dezember lagen die ersten Grußkarten im Briefkasten. Zwei Absender, über deren Karten ich mich besonders freute. Die erste Karte war mit einen Fraktur-W und dem lateinischen Ausspruch "semper talis" (immer gleich) versehen. Die zweite Karte trug ein Kreuz mit dem Schriftzug "Domini sumus" (des HERRN sind wir). Latein war aber nicht alles, was mich erfreute: Auf der zweiten Karte war auch die Jahreslosung für 2019 abgedruckt.

Das Los für 2019

In Herrnhut gibt es große Behälter mit Bibelsprüchen, aus denen die Losungen gezogen werden. Das Los für das Jahr 2019 war auf Psalm 34, 15 gefallen: "Suche Frieden und jage ihm nach!".

Lose werfen ist eine durchaus biblische Angelegenheit. So hatten die Priestergewänder gemäß der Mosebücher spezielle Taschen zur Aufbewahrung von Losen. Lose wurden zur Ermittlung des ersten Königs von Israel geworfen. Der zweite König, David, warf Lose, um Gottes Antworten zu ermitteln. Die Soldaten unter dem Kreuz warfen das Los um die Kleidung von Jesus und die Apostel warfen das Los zur Nachberufung eines neuen zwölften Mannes. Seit knapp 300 Jahren wird nun auch in Herrnhut das Los geworfen und Bibelzitate für Jahr, Monat, Woche und Tag ermittelt.

Psalm 34, 15

"Suche Frieden und jage ihm nach!" ist eine der möglichen Übersetzungsvarianten von Psalm 34, 15. Zunächst ist zu beachten, dass das nur der zweite Teil eines viel längeren Verses ist. Der Vers beginnt mit "Weiche ab vom Bösen und tue Gutes!". Hier gibt es kaum Spielraum bei der Übersetzung. Egal, ob man den Text direkt aus dem Hebräischen, aus der Septuaginta (griechisch) oder der Vulgata (lateinisch) übersetzt. Allein das erste Wort sur kann widerstehen oder zurückkehren oder abkehren oder abweichen vom Bösen oder vom Übel (me-rah) bedeuten.

Interessanter ist die Übersetzung des zweiten Teils "Suche Frieden und jage ihm nach!". Das erste Wort baqesch wird normalerweise für Bitten, Erbitten, Ersuchen verwendet. Wenn beispielsweise der Tourist mit offenem Mund vor der Klagemauer in Jerusalem steht und plötzlich einen Stoß in die Seite bekommt gepaart mit dem Ausspruch "Vaqascha", dann heißt das "Bitte!" Er soll bitte Platz machen, damit auch noch andere Leute durchkommen. Baqesch kann aber auch mit "Suche!" übersetzt werden.

Erbitte Frieden!

Hieronymus folgt dem nur bedingt bei der Übersetzung aus dem Griechischen und Hebräischen. Aus der Septuaginta übersetzt er mit inquire (Erforsche!), was wir von der Inquisition kennen, dem Erforschen dessen, was jemand alles so falsch gemacht haben könnte. "Erforsche den Frieden!" würde das im Deutschen heißen. Seine Übersetzung aus dem Hebräischen nutzt das Wort quaere (Suche! Frage! Untersuche!). Was nun? Sollen wir den Frieden untersuchen? Sollen wir ihn suchen? Oder sollen wir ihn erbitten? Und welches Wort steht im Urtext überhaupt für Frieden? Richtig: Schalom! "Baqesch Schalom we-radfehu!", ist dort zu lesen.

Das Wort Frieden ist aber nur ein Teilaspekt von Schalom. Unser Frieden könnte sich auf eine friedliche See, die Zeit zwischen zwei Kriegen oder den inneren Frieden beziehen. Laut Langenscheidt kann Schalom folgendes bedeuten: Frieden, Ruhe, Wohlbefinden, Gutes, Wohlergehen, Entschädigung, Reparation oder Wiedergutmachung. Am besten gefallen mir im gelben Wörterbuch der Schalom-Emeth, der echte Frieden, und der Isch-Schlomo, der Mensch des Vertrauens.

Verfolge ihn!

Würde ich mit Altgriechisch nicht auf Kriegsfuß stehen, würde ich diese Sprache hier auch noch einfließen lassen. Aber man kann nicht alles haben. Außerdem geht es ja nicht um den Kriegsfuß, sondern um Frieden, den Schalom. Ich persönlich tendiere zu "Erbitte Frieden!". We-radfehu kann ins Deutsche übertragen werden mit "und erstrebe ihn", "und eifere ihm nach", "und sei ehrgeizig" oder "und verfolge ihn".

Letzteres ist besonders pikant, da das hebräische Wort mit dem Konsonantenstamm "rdf" tatsächlich auch für unser Substantiv Verfolgung verwendet wird. Verfolgen oder nachjagen trifft den Sinn wohl am besten. Hieronymus nutzt das Wort "persequere". Dieses Wort begegnet uns zweimal in Apostelgeschichte 9. Dort wird Saulus von Jesus gefragt, warum dieser ihn denn verfolge: "Saul Saul, quid me persequeris?" und "Ego sum Iesus, quem tu persequeris!" (Ich bin Jesus, den du verfolgst!). Streicht man das "per" am Anfang weg, ergibt sich ein deutlich positiverer Sinn, nämlich die bekannte Sequenz, die Folge. Wenn Jesus seinen potenziellen Schülern zuruft "Sequere me!", dann übersetzt Luther das mit "Folge mir nach!"

Hinterherlaufen oder entgegengehen?

Wir sollen also Frieden erbitten und diesem dann konsequent nachfolgen. Seit einigen Jahren hängt mir ein Spruch aus der Finanzdienstleistung im Gedächtnis: "Man soll dem Geld nicht hinterherlaufen. Man muss ihm entgegengehen." Warum dem Frieden nachjagen, wenn man ihm auch entgegengehen könnte? Vers 15 aus Psalm 34 schließt beides ein. Das Erbitten oder Suchen geht dem Frieden entgegen und das Nachjagen macht den Frieden nachhaltig. Bitten, empfangen und erhalten stecken in diesem kleinen Vers, der im Hebräischen nur aus drei Wörtern mit insgesamt 13 Buchstaben besteht - sehr kompakt.

"Erbitte Frieden und folge ihm konsequent nach!" Den Rest müssen sich nun Heerscharen von Pfarrern und Pastoren ausdenken, die in der ersten Januarwoche eine Predigt über diesen Text abzuliefern haben. Ich hingegen lehne mich entspannt zurück und freue mich über die Weihnachtskarten: "Semper talis" ist der Leitspruch des Wachbataillons und "Domini sumus" das Motto der Militärseelsorge.

Sonntag, 16. Dezember 2018

Band of Brothers and Sisters in Spandau

"Band of Brothers and Sisters" ist eine neue übergemeindliche Initiative in Berlin. Gestern besuchte ich die Dezember18-Konferenz der "Band of Brother and Sisters" in Spandau.



Wer "Band of Brothers and Sisters" hört, könnte sogleich an einen Gospelchor denken. Tatsächlich hat diese Band etwas mit Gospel (Gute Nachricht, Evangelium) zu tun. Allerdings ist die Band im Sinne von Team zu verstehen, als ein "Team von Brüdern und Schwestern".

Am Freitag startete in Spandau die Dezember18-Konferenz der "Brothers and Sisters". Es begann mit einem Abend des Kennenlernens, mit Lobpreis und Gebet. Es war auch eine Abordnung aus Süddeutschland angereist. Das relativ locker organisierte Treffen wurde von Dirk Koeppe einberufen. Dirk Koeppe ist Pastor in der LKG Westend.

Termine und der Weg nach Spandau

Wegen vorweihnachtlicher Terminüberschneidungen und des langen Weges nach Spandau hatte ich den gestrigen Vormittag für die Konferenz eingeplant. Ich hatte keine konkrete Vorstellung, was mich erwarten werde. Mehrere Vorträge zu interessanten Leitungsthemen standen auf dem Programm. Nachdem ich den Wagen auf dem Gelände abgestellt hatte, begegnete ich sogleich einer Frau aus Süddeutschland. Sehr freundlich. Begrüßung mit Vornamen.

Freundlich und mit Vornamen ging es auch im Saal weiter. Nur Dirk Koeppe war mir bekannt, obwohl ich ihn auch nur einmal kurz bei einer Allianz-Veranstaltung getroffen hatte. Egal, so viele neue Gesichter und dazu die Namen. Wie merkt man sich das nur? Joachim, Günther, Peter. Dann schneite Detlef Czech herein. Noch ein Bekannter. Es wurde immer voller und kurz vor Beginn erschien Swen Schönheit.

Wir waren schätzungsweise 25 Männer und Frauen aus sämtlichen Generationen mit einem Durchschnittsalter von 50. Die administrative Zusammensetzung war sehr heterogen. Geistliche Leiter wie Swen Schönheit, Pastoren wie Dirk Koeppe, Otto Normalchristen und Freelancer wie Detlef Czech saßen in Harmonie nebeneinander. Uns alle verband ein Gedanke: Lasst uns das Reich Gottes - den Einflussbereich von Jesus - in Berlin und Brandenburg ausweiten!

Impulsvorträge mit Inhalt

Dirk Koeppe berichtete sehr offen von seinem pastoralen Werdegang, den Höhen und Tiefen von Gemeindeentwicklung und seinem Wunsch, noch effizienter die Menschen in der Stadt mit Jesus bekannt zu machen. Dem schloss sich Swen Schönheit an. Er zeigte jede Menge Folien zur Illustration seiner Ausführungen. Ich war fasziniert über seine Sprachgewandtheit und die Ehrlichkeit, mit der er seine jeweilige Situation reflektierte. So ließ er sich nicht von einer gut gefüllten und quantitativ wachsenden Gemeinde blenden, sondern suchte Tiefe und förderte gezielt Leiter, die diese Tiefe weitertransportieren konnten. Inzwischen engagiert er sich bei der GGE, der Geistlichen Gemeindeerneuerung in der evangelischen Kirche.

GGE passte sehr gut zu dieser Konferenz. Prophetische Eindrücke, kräftiger Lobpreis und intensives Gebet bildeten den Rahmen für die Vorträge und Fragerunden. Die Referenten standen für einen Dialog mit dem Publikum zur Verfügung und hatten dabei alle Zeit, die sie brauchten.

Es folgte Detlef Czech. Sein Arbeitsgerät war das Flipchart. Er untermalte seine Ausführungen per Edding. Als erklärter Out-of-the-Box-Denker nahm er uns in seine Erfolge und Konflikte hinein, schilderte seinen Werdegang als Gemeindegründer und geistlichen Freelancer, der sein Ohr am Geist Gottes hat und dann auch mal sehr unkonventionelle Wege beschreitet. Wir stellten in der begleitenden Diskussion fest, dass es gar nicht so einfach ist, normgebundenes Denken abzulegen. Detlef Czech stellte auch heraus, dass Gebete am Bedürfnis und nicht am Wunsch orientiert sein sollten.

Schwerwiegende Impulse

In nur wenigen Stunden hatte ich einige schwerwiegende Impulse aufgenommen: Die Theologen waren sich einig, dass im Judentum - also sämtlichen Texten der Bibel - gefragt wird, statt zu vermuten und anzuklagen. Als Softwareentwickler berechne ich einfach selbst viele Situationen voraus und stelle generell zu wenige Fragen. Das ist ein Defizit, das ich schon seit einiger Zeit an meine journalistischen Coaches herantrage.

Selbsterkenntnis und Selbstoptimierung seien die initialen Voraussetzungen für den weiteren Erfolg im Reich Gottes. Daraus kann das Gebet um Gleichgesinnte folgen und daraus das Treffen mit diesen. Wir waren uns einig, dass das Reich Gottes nicht über Gemeindeprogramme gebaut wird, sondern über persönliche, ehrliche Beziehungen, die ein konkretes Wachstum in der Beziehung zu Jesus fördern. Swen Schönheit ging sogar so weit, dass eine auf Aktionismus gebaute Gemeinde auf Sand gebaut sei. Aktion kann immer nur die Folge von Vision und Mission sein, aber nie der Beginn, auch wenn die Aktion erst einmal erfolgreich scheint.

In der Pause diskutierten die Anwesenden in kleinen Grüppchen weiter. Peter Ischka bot Bücher und Z-Magazine an. Kekse und Salzstangen wurden geknabbert. Ich machte mich auf den Weg zu meiner Familie. Sie waren ins Umland zu einem Weihnachtsmarkt gefahren. Vorweihnachtliche Terminüberschneidung eben.

Montag, 10. Dezember 2018

Feliz Navidad und der Owie lacht

Weihnachtslieder werden über sprachliche Grenzen hinweg gesungen. Gestern erlebten wir einen internationalen Gottesdienst mit sprachlichen Fallen.



Im Eingangsbereich unserer Gemeinde stehen 50 kleine Fähnchen. Zu jedem der Fähnchen gibt es hier mindestens eine Person. Als beste sprachliche Schnittmenge dient Englisch, obwohl auch Afrikaner, Asiaten und Lateinamerikaner zu den Besuchern zählen. Afrikaner sprechen oft französisch und Südamerikaner spanisch.

Die Übersetzerin hatte es leicht. Die Weihnachtsgeschichte wurde auf Kinderdeutsch vorgelesen und die Übersetzung ins Englische stand an der Leinwand. Ein Großteil der Kinder disruptiert den Trend der Start-up-Szene und will lieber auf Deutsch kommunizieren. Das zwang die Mitarbeiter dazu, dieser Präferenz zu folgen. Hauptsache, die Kinder hören und machen das, was ihnen gesagt wird.

Während die Erwachsenen im großen Saal schon Weihnachtslieder auf Englisch, Spanisch und Deutsch sangen, wurden die lieben Kleinen in die reichlich vorhandenen Kostüme gesteckt. Es gab eine riesige Schafherde, viele Hirten, Ochs und Esel, viele Engel, aber nur zwei Könige, so dass meine Tochter den dritten König stellen musste. Vermutlich war sie Balthasar, da sie Caspar und Melchior vor sich her schob. Ein Geschichtenerzähler saß am Rand vor dem bunt geschmückten Weihnachtsbaum und las auf Deutsch.

Dazwischen immer wieder Weihnachtslieder und Eltern, die mit ihren Smartphones die goldigen Kindlein knipsten und sogleich viral im Internet verbreiteten. Als wieder eine Kinderherde zur Bühne kam, sangen wir "Stille Nacht, heilige Nacht". Ich war so fasziniert von diesem Monumentalfilmaufgebot an Kindern, dass ich fast die Stelle mit dem lachenden Owie verpasst hätte. "Owie lacht", sang ich meiner Frau ins Ohr. Sie lachte diesmal gar nicht. Zu sehr war sie auf die Kinder konzentriert.

Der Abend nahm seinen Lauf und auch "Feliz Navidad" wurde gesungen. Mein Sohn lernt schon seit vielen Jahren Spanisch. Das heißt, er hat Spanisch, lernt es aber nicht. Entsprechend sehen seine Noten aus. Er hasst das Fach. Dennoch machte er gestern eine folgenschwere Entdeckung. "Ano heißt aber etwas ganz anderes", raunte er meiner Frau zu. Es folgte der Owie-Effekt und sie klärte auch mich auf. Breites Grinsen beim iterierten Refrain: "Feliz Navidad Prospero Ano y Felicidad".

Über dem N von Ano fehlte die kleine Welle. Der Start-up würde von einer Tilde sprechen. Diese kleine Welle veränderte den Sinn des Wortes signifikant. Aufgeregt ging meine Frau zum Techniker, der die Folien aufgelegt hatte. Er solle dringend die kleine Welle über das N setzen. Breites Grinsen auch auf seinem Gesicht. Wir fragten den Technik-Leiter, wie lange denn schon von dieser Folie gesungen werde und ob noch keiner unserer vielen Spanischsprecher einen Hinweis dazu gegeben hätte.

Nein, es gab bisher keinen Hinweis und von der Folie werde seit fünf Jahren gesungen. Wir holten einen Spanier hinzu und fragten, ob ihm beim Lied etwas aufgefallen sei. Ob wir etwas anders singen, als es sein müsse. Er grübelte kurz und lächelte plötzlich verschmitzt in sich hinein. Breites Grinsen und dann schallendes Lachen. Seine amerikanische Frau kam hinzu. Sie verstand den Zusammenhang mit der fehlenden Welle erst, nachdem unser Technikchef auf seinen Hintern gezeigt hatte. Amerikaner lachen über solche Themen aber nicht.

Mit Feliz Navidad gibt es nun das zweite Weihnachtslied, das uns zukünftig zur Zeit und zur Unzeit zum Schmunzeln bringen wird.

Samstag, 8. Dezember 2018

First Christmas mit der Stadtmission im Ringcenter

Die Berliner Stadtmission hat den 2. Samstag im Advent genutzt, die originale Weihnachtsgeschichte mit Text, Spiel und Gesang aufzuführen. Die Kulisse stellte das zentrale Weihnachtshaus im Ringcenter am S-Bahnhof Frankfurter Allee.



Buff - "Du kannst das jetzt reklamieren gehen", sagte ich und hielt meiner Frau die kleine Tüte von Conrad Electronic unter die Nase. "Hat nicht geklappt?" - "Ich schmeiße jetzt die Mikrowelle in den Müll." Was war passiert?

Meine Frau hatte die Idee, heute Nachmittag zum Rixdorfer Weihnachtsmarkt zu fahren. Rixdorf ist eine sehr fromme Gegend mit Herrnhuter Brüdergemeine und Böhmischen Dörfern. Auch wenn ich Weihnachtsmärkte nicht mag, wollte ich meine Gattin heute mal begleiten. Einfach, um mit ihr zusammen zu sein. Untypisch war auch, dass ich ihre Entscheidung für die öffentlichen Verkehrsmittel akzeptierte.

Abstecher zu Conrad

In Neukölln stiegen wir in die U-Bahn um. Auf den Displays war zu lesen, dass der Rixdorfer Weihnachtsmarkt wegen Unwetterwarnung heute nicht stattfinde. Das glaubten wir nicht. Bei Google-Maps stand, dass der Weihnachtsmarkt geöffnet sei. So fuhren wir zunächst unter Rixdorf hindurch und zum Herrmannplatz. Dort kauften wir bei Conrad Electronic eine Sicherung für unsere Mikrowelle. Die Mikrowelle stand schon seit Monaten halb zerlegt im Flur und es war nirgends eine passende Sicherung dafür zu bekommen. Auch nicht bei Amazon. Conrad hatte noch genau eine Sicherung, die zwar nur 15 statt 16 Ampere verkraften konnte, aber egal. Das seltene Stück kostete 15 Euro. Dafür war eine kleine Conrad-Tüte dabei.

Im Nieselregen schlenderten wir noch etwas durch Neukölln. Straßenverkehr und sonstiges Ambiente erinnerten an Istanbul. Auch die Gerüche. Bei Karstadt entdeckten wir ein neues Geschäftsmodell: Tür auf- und einen Becher hinhalten. Meine Frau warf Münzen in den Becher von zwei russischen U-Bahnmusikern. Können muss honoriert werden.

Rixdorf und die Böhmischen Dörfer

Wieder sahen wir die Laufschrift, dass der Rixdorfer Weihnachtsmarkt ausfalle. Wir glaubten das immer noch nicht. So ging es wohl vielen Berlinern, die mit uns am U-Bahnhof Karl-Marx-Straße ausstiegen. Spätestens hier war ich froh, dass wir nicht mit Auto unterwegs waren. Es regnete. Autos und Fußgänger soweit das Auge reichte. Dann bogen wir in die lauschigen Gassen von Rixdorf ein. Eine ganz andere Welt unmittelbar neben Istanbul. Man fühlte sich plötzlich wie im weihnachtlichen Erzgebirge. Überall die Herrnhuter Weihnachtssterne von winzig bis riesig in unterschiedlichen Farben.

Als wir uns dem historischen Kern von Rixdorf näherten, stellten wir fest, dass die U-Bahn Recht gehabt hatte. Es waren nur sehr wenige Buden geöffnet und an der Bühne stand schon das THW für den Sturmeinsatz bereit. Wir schlenderten im Regen über den Platz und dann langsam Richtung S-Bahnhof. Das Timing passte perfekt zu einer Alternativ-Veranstaltung, die ich noch in der Hinterhand hatte: Berliner Stadtmission im Ringcenter.

Berliner Stadtmission im Ringcenter

Das Ringcenter liegt direkt am S-Bahnhof Frankfurter Allee. Man fällt regelrecht von der S-Bahn in dessen Nebeneingang. Aus der Tiefe waren weihnachtliche Klänge zu hören. Wir folgten der Musik. An zentraler Stelle war ein Knusperhäuschen aufgebaut - das Weihnachtshaus. Die Musiker von der Stadtmission übten noch einmal ihre Stücke. Direkt vor der Bühne saßen Kinder mit Bommelmützen und Müttern. Die Mütter hatten kaum Platz, da wenige Meter weiter ein Smoothie-Stand seine fruchtigen Getränke anbot. Die Stadtmissionare wirkten sehr beschäftigt und der Platz war eng. Deshalb fuhren wir wieder eine Etage höher und schauten von der deutlich besseren Position zu. Das sah der mitgebrachte Kameramann wohl auch so und folgte uns.

Das Programm ging etwa eine halbe Stunde und war auf die Location abgestimmt. Es gab einen raschen Wechsel von Text, Theater und Musik. Dabei schlüpften einige der Akteure in verschiedene Rollen: Gesang, Engel, schwangere Elisabeth, Cajon, Joseph, Hirte, Bass-Ukulele und Maria. Die Übergänge funktionierten so perfekt, dass diese Personalunion kaum auffiel.

Mehrfach wurde ein Rückblick auf das Geschehene gegeben. Schließlich war ein ständiges Kommen und Gehen zu verzeichnen. Einkaufscenter eben. Nur das Publikum direkt vor der Bühne war recht konstant. Eine Frau mit Kopftuch filmte die gesamte Weihnachtsgeschichte mit ihrem Smartphone. Ein Vater machte mehrere Fluchtversuche, wurde aber von seinem kleinen Sohn zum Dableiben gezwungen. Neben uns tanzten Kunden zu "Gloria in excelsis Deo". Das Programm hatte die Stadtmission mit "First Christmas" angekündigt. Damit sollte auf den Ursprung des Weihnachtsfestes und auf Jesus aufmerksam gemacht werden. Das war nach unserer Einschätzung gelungen.

Die Stadtmissionare boten nach dem Programm noch Gespräche an, zogen sich jedoch bald in das Weihnachtshäuschen zurück. Schade, wir wollten noch kurz "Hallo" gesagt haben. So irrten wir durch das Ringcenter und fanden tatsächlich den Ausgang zur S-Bahn. Wenn Jesus schon das Timing bestimmt, dann richtig: Auf den Stufen zum Bahnsteig trafen wir noch eine gute Freundin und konnten uns gleich zum morgigen Adventsgottesdienst verabreden.

Als wir zu Hause waren, holte ich die zerlegte Mikrowelle hervor und setzte die neue Sicherung ein. Die Uhr leuchtete. Ich drehte den Knopf auf 30 Sekunden und drückte auf "Micro": Buff.

Samstag, 1. Dezember 2018

Vulgata Tusculum auf Deutsch

Wer die Vulgata lesen möchte, muss jetzt kein Latein mehr lernen. Mit der Vulgata Tusculum gibt es nun eine wissenschaftliche Übersetzung ins Deutsche. Diese wurde gestern in der Katholischen Akademie vorgestellt.



Die Einfahrt ins Parkhaus der Katholischen Akademie war eng. Die dunklen Streifen an der Wand signalisierten, dass hier schon so manch ein Fahrzeug zerschellt war. Den Wagen stellte ich vor dem Schild "Bischofskonferenz" ab und ging zum Fahrstuhl. Wer einen Vorgeschmack auf die Ewigkeit haben möchte, sollte den Fahrstuhl zum Erdgeschoss nutzen.

Im Erdgeschoss erfuhr ich, dass die Vulgata in der dritten Etage vorgestellt werde. Diesmal nutzte ich die Wendeltreppe und gelangte in einen mit vielen Stuhlreihen gefüllten Raum. Das Publikum erinnerte optisch und demografisch an Veranstaltungen der CDU/CSU-Fraktion. Über mir gab es eine Glaskuppel. Dort konnte kontrolliert werden, ob die Haare noch liegen. Das war mir jedoch egal, da meine Frau die Haare vor einem Monat geschnitten hatte. Versehentlich war der Haarschneider auf neun Millimeter eingestellt worden, so dass bis heute keine für die Glaskuppel relevante Frisur nachgewachsen ist.

In der ersten Reihe - also direkt vor mir - nahmen mehrere Professoren Platz. Nacheinander durften sie ans Pult treten und über ihr Werk reden. Die Vulgata in Deutsch war in nur sieben Jahren entstanden und hatte einige Übersetzer und sonstige Dienstleister verschlissen. Die drei Herausgeber - allesamt Professoren der Theologie - hatten sehr genau hingeschaut, welche Qualität geliefert wird. So sollten die Übersetzer jegliche regionale und sprachliche Eigenheiten ablegen, sie sollten keine Pastoraltöne, kein Lutherdeutsch und auch keinen Cicero einfließen lassen.

Den Cicero-Spagat hatte Hieronymus sehr gut hinbekommen. Während er um 400 seine Vorreden zu den biblischen Büchern im Stil von Cicero und natürlich auf Latein verfasste, konnte er bei der Übersetzung des hebräischen Urtextes auf die lateinische Alltagssprache umschalten. Wie Luther schaute auch Hieronymus "dem Volk aufs Maul". Aus protestantischem Prinzip durfte Luther den Hieronymus zwar nicht mögen, schätzte doch aber sein sprachliches Handwerk sehr.

Wer sich für Bibelübersetzungen und die damit verbundene Arbeit und den Kampf um die optimale Übertragung in eine andere Sprache interessiert, hätte gestern einen Hochgenuss erlebt. Die Professoren warfen Folien an die Wand mit Versen auf Hebräisch, Griechisch, Latein und Deutsch und schilderten die Herausforderungen bei der Übertragung von Redewendungen und Dingen, die in anderen Kulturen vielleicht gar nicht existieren. Das beginne schon in den ersten Versen der Bibel. Besonders schwierig sei die Übertragung des Hebräischen ins Griechische gewesen, da die Griechen mit "von ganzen Herzen" nichts anfangen konnten. Was hat das Herz mit der Gefühlswelt zu tun? Deshalb wurde dann auf das Geistige übersetzt, so dass auch der gemeine Grieche etwas mit dem Vers aus 5. Mose 6, 5 anfangen konnte.

Noch dramatischer gestalteten sich aber Übersetzungen für Eskimos. Die kennen kein Lamm und Brot gibt es im Polarkreis auch nicht. So wurde das Lamm in Robbenbaby übersetzt und auch für das Brot wurde ein schwaches Pendent gefunden. Allerdings waren damit wichtige Symbole zerstört: Brot und Wein oder Lamm Gottes. Die Professoren erläuterten die Entscheidungswege zur Festlegung des für die jeweilige Sprache passenden Äquivalentes. Generell war ein sehr ehrfürchtiger Umgang mit den Urtexten und Quellen festzustellen.

Bei der Übersetzung muss also zunächst entschieden werden, ob es ein formales oder ein dynamisch-funktionales Ergebnis geben soll. Die Elberfelder oder die Martin Buber gelten als formale und eher trockene Übersetzungen, die möglichst nah am Urtext rangieren. Die Hoffnung für Alle oder gar die Volxbibel sind eindeutig dynamisch-funktionale Bibeln, die für eine bestimmte Zielgruppe in deren Sprache übersetzt wurden. Die Professoren ließen sich nicht nehmen, zu erwähnen, dass "Die Bibel für kluge Kinder und ihre Eltern" gerne als Bibeleinstieg für Erwachsene genutzt wird. Durch die Hintertür des Kinderzimmers sozusagen.

Überhaupt waren insbesondere die Ausführungen von Prof. Dr. Widu-Wolfgang Ehlers mit spitzfindigem Humor gewürzt. Der Professor verzog keine Miene, während das Publikum fast bei jedem Satz in herzhaftes Lachen ausbrach.

Nach etwa zwei Stunden hatten wir einiges zum Thema Übersetzung gelernt und erfahren, dass die Vulgata Tusculum in Deutsch fünf Bände umfasst. Mit insgesamt 6.300 Seiten ist sie deutlich dicker als die Biblia Sacra Vulgata mit ihren 1976 Seiten. Das liegt wohl daran, dass der lateinische Text über oder neben der deutschen Übersetzung steht. Da ein Band knapp 80 Euro kostet, ist die Bibel wohl eher etwas für Experten oder Sammler. Alle fünf Bände kosten demnach 400 Euro. Das ist selbst mir zu teuer, so dass ich lieber bei meiner Vulgata in der Originalfassung von Hieronymus bleibe.

Es gab zwar noch einen Sektempfang des Verlages, aber ich wollte sicher sein, dass ich zur späten Stunde noch mein Auto aus der Tiefgarage bekomme. Nach dem Einwurf von drei Euro konnte ich sogar offiziell durch die geöffnete Schranke hinaus in die regnerische Nacht fahren.

Freitag, 30. November 2018

Weihnachtsverspannungen und die Familien-Chronik

Christbaumschmuck eignet sich offensichtlich auch zum Sammeln. So hat das Deutsche Historische Museum (DHM) heute eine Sonderausstellung zu diesem Thema eröffnet. Ich habe am Presserundgang teilgenommen.


In der christlichen Szene ist die Nutzung des Weihnachtsbaumes umstritten. Besonders "rechtgläubige" Christen lehnen ihn als heidnisches Symbol ab. Schließlich werde auch in der Bibel nichts vom Weihnachtsbaum berichtet, ganz abgesehen von der Datierung der Geburt Jesu. Alles nur kirchengeschichtliches Beiwerk, das sich irgendwelche Prälaten zur Verweltlichung geistlicher Themen ausgedacht haben.

Die gestern im DHM eröffnete Sonderausstellung zum Christbaumschmuck aus zwei Jahrhunderten konnte die Frage nach dem Ursprung der Weihnachtsbaum-Tradition nicht erschöpfend klären. Fakt ist jedoch, dass der Baum um diese Jahreszeit in vielen Kulturen genutzt wird. So zeigt die Ausstellung eine sehr ambivalente Vermischung religiöser und ethnischer Baum-Behänge.

Christbaumschmuck DHM Deutsches Historisches Museum Sonderausstellung
Christbaumschmuck im Deutschen Historischen Museum (DHM) - Runen für den Julbaum
Wenn ein einschlägig bekanntes Möbelhaus aus Schweden mit seinen Jul-Wochen und dem Austausch des Weihnachtsbaumes gegen Möbel wirbt, liegt dem das nordische Jul-Fest zugrunde. In einer Vitrine war deshalb auch Jul-Schmuck in Form bunt bemalter Runen zu sehen. Diese hatte ein Mann mit straffer NS-Vergangenheit in Dresden gesammelt. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren plötzlich einige Teile seiner Biografie verschollen. Nicht so seine Julbaum-Runen. Als Experte für völkisches Denken hatte er damals auch über Runengebäck und ähnliches gelehrt.

In der Nachbarvitrine lag dann auch eine Weihnachtsbaumspitze mit Lametta und Hakenkreuz, dazu ein glitzerndes Hakenkreuz für die Zweige und eine plattgedrückte silberne Weihnachtskugel mit einem geprägten Hakenkreuz. Ein Kameramann ergatterte von einem erhöhten Standpunkt aus ein interessantes Motiv: Hakenkreuz hinter Davidstern. Dieser hing nämlich in den Vitrine gegenüber. Neben dem Davidstern hingen der Felsendom, arabische Behänge, Ikonen und der Chanukkaleuchter, alles im Format unserer bekannten Weihnachtskugeln.

Auf 80m² waren 500 Exponate ausgestellt. Die Hälfte davon waren in die "Weihnachtsverspannung" integriert. Diese Verspannung bildete mit gläsernen Köpfen von Marx und Luther, Krippen, Engeln, Kugeln, Menschen, Fahrzeugen und einem zentral verspannten Handy ein Dreieck, das wohl einen Weihnachtsbaum symbolisieren sollte.

Christbaumschmuck DHM Deutsches Historisches Museum Sonderausstellung
Christbaumschmuck im Deutschen Historischen Museum (DHM) - Generationen gehen dahin und dokumentieren das vor dem Weihnachtsbaum.
Interessant war, dass sich am Weihnachtsbaum so manch eine Familienchronik nachvollziehen ließ. So tauchten die Protagonisten als Babys, als Kinder, als Jugendliche, als Soldat, als Offizier und dann gar nicht mehr auf. Andere Personen waren weiterhin dabei, zeigten aber den üblichen biologischen Verfall, bis sie dann auch von den Fotos vor dem Weihnachtsbaum verschwanden. Auch in unserer Familie gibt es die Tradition dieses Gruppenfotos im engsten Kreise. Daran lässt sich ablesen, wann mein Schwager mal wieder auf Weltreise war, wann er seine Freundin kennengelernt hatte, wann unsere Väter gestorben waren, wie der Stand des Übergewichts war und wer gerade den Friseur besucht hatte.

Die Eröffnung der Ausstellung im DHM war gleichzeitig eine Steilvorlage für das Anschalten des Lichtes am Weihnachtsbaum vor dem Schloss Bellevue. Jedes Jahr, am Freitag vor dem ersten Advent, lädt der Bundespräsident Grundschüler aus irgendeiner Stadt in Deutschland ein und singt mit ihnen Weihnachtslieder. Anschließend dürfen sie das Licht einschalten und Kakao mit dem Präsidenten trinken. So auch heute, nur dass das Singen wegen des Regens im Schloss statt auf dem Vorplatz stattfand.

Samstag, 10. November 2018

Angst beim Männertag in der EFG Oberkrämer

Beim Männertag in Oberkrämer ging es diesmal um verschiedene Ängste und den Umgang damit. Erstmalig war ich zusammen mit meinem Sohn beim Männertag.



"Fürchte dich nicht", stand in großen Buchstaben auf einem schwarzen Briefumschlag, den wir unter unseren Stühlen hervorziehen konnten. Bis zum Ende des Männertages in der EFG Oberkrämer hatte niemand bemerkt, dass er über einem schwarzen Briefumschlag sitzt. Manchmal klemmt auch Schokolade unter dem Sitz und manchmal auch ein Kaugummi.

Auch mein Sohn bückte sich unter den Stuhl. Mit seinen 15 Jahren war er nun endlich so groß, dass ich ihn mal mit zum Männertag nehmen konnte. Meine Frau hatte das bisher immer blockiert. Während ich zwei Männern aus meiner Ex-Gemeinde noch sagen konnte, sie sollen bitte nicht den Klassiker bringen, sprach es prompt ein anderer Mann aus: "Bist du aber groß geworden". Mein Sohn schaute über mich hinweg und grinste die Männer an. In der JKB Treptow fühlen sie sich seit dem Verlassen unserer Ex-Gemeinde sehr wohl und genießen die abwechslungsreichen Predigten. Sie seien inzwischen in den großen Kinosaal des "Astra" umgezogen.

Der Männertag in Oberkrämer wird seit vielen Jahren thematisch vom Forum Wiedenest begleitet. Diesmal war sogar Ulrich Neuenhausen angereist. Er ist Leiter des Werkes. Wiedenest liegt ganz im Westen in einer Region südlich des Sauerlandes. Echte Berliner wissen wahrscheinlich nicht, wo das Sauerland liegt. Hier ein Tipp für Dortmund-Fans: Das Sauerland liegt südlich von Dortmund und Wiedenest noch etwas südlicher davon.

Aus dieser Region jedenfalls war Uli Neuenhausen angereist. Er machte einen sehr authentischen und alltagsbezogenen Eindruck. Er war kein typischer Kleriker und auch kein Mann, der sich um das Amt des Werksleiters gerissen hätte. Das machte ihn sympathisch und schaffte eine gute Basis zum Zuhören. Das Thema Angst hatte er sich wohl selbst ausgesucht und begründete es damit, dass er mit zunehmendem Alter deutlich mehr Ängste erlebe als früher.

In seinen Vorträgen ging es um verleugnete Angst, wodurch sich der Ängstliche selbst etwas vorlügt und dann eben falsche Entscheidungen trifft. Saul wurde als Beispiel für Fehlentscheidungen durch geleugnete Menschenfurcht zitiert. Die These: Geleugnete Angst macht das Leben zur Lüge.

Petrus diente als Beispiel für Angst, die durch einen Wechsel des Fokus erzeugt wurde. Beim Gehen über das Wasser schaute Petrus plötzlich auf die Umstände, die Wellen, statt auf Jesus. Dabei war Jesus so nah, dass er Petrus greifen und vor dem Ertrinken bewahren konnte. Lähmende Angst also, die entschiedenes Handeln verhindert. Das Wort Entscheidung kam bemerkenswert oft bei Uli Neuenhausen vor. Damit offenbarte er sich selbst als Entscheider. Entscheidungsfähigkeit ist eine sehr wichtige Eigenschaft begabter Leiter.

Das Dritte waren irrationale Ängste. Ängste, die keinen objektiven Bezug zu den tatsächlichen Umständen haben. Der Referent aus Wiedenest sprach viele Ängste quer Beet an, so dass sich letztlich wohl jeder Mann irgendwo getroffen gefühlt haben musste.

Es waren etwa 150 Männer im Saal. In der Küche standen einige Frauen der Gemeinde und kochten unentwegt Kaffee. Sie kümmerten sich auch um das Mittagessen und den Kuchen. Mein Vordermann zeigte die Gänsehaut auf seinem Arm, als die Männerstimmen den Lobpreis in den Gemeinderaum hineinsangen.

Nach dem Mittagessen - Linsensuppe mit Würstchen oder Milchreis mit Kirschen - fanden die üblichen Seminare statt. Eines ging um Mentoring, eines um mutig von Jesus zu erzählen und eines um die Offenbarung, also das finale Buch der Bibel. Die Schnittmenge zwischen meinem Sohn und mir war das Mentoring-Seminar. Es gab zwar auch einen gruppendynamischen Teil, aber die gewohnt gute Verpflegung sorgte für eine Kombination aus Verdauungs- und Mittagsmüdigkeit.

Zum Wachwerden war Matthias Burhenne aus Wiedenest angereist. Er moderierte den letzten Teil des Männertages. Mein Sohn war beeindruckt von dessen professioneller Moderatorenstimme. Die erste Übung zur Überwindung der Mittagsmüdigkeit war ein Spiel mit Lutschern. Wer eine Frage mit Ja beantworten konnte, musste seinen Lutscher an den Fragesteller abgeben. Ich mag keine Lutscher und war deshalb gewollt schnell raus aus dem Spiel. Ein junger Mann hatte 12 Lutscher bekommen. Er hatte immer die gleiche Frage gestellt: "Bist du ein Mann?"

Als es dunkel geworden war, neigte sich auch der Männertag in Oberkrämer seinem Ende entgegen. Es gab noch drei Lieder, Gebetsangebote, eine Kollekte und einen Segen. Dann fuhren die Männer aus Berlin und Umgebung in die Nacht. Ich war erstaunt, dass man auch mit Baustellen-Tempo 40 und 60 zu Hause ankommt.

Mittwoch, 31. Oktober 2018

Katholiken und Lutheraner beim Reformationstag in der Dorfkirche Marzahn

Reformationstag zusammen mit einer katholischen Gemeinde? Geht sowas überhaupt? In der Dorfkirche Marzahn sahen wir heute, wie das funktioniert.



Es begann um 17:45 Uhr. Acht Wellen morbide geschminkter Kinder fluteten durch unsere Straße. Näääääht, schrillte die Klingel. Ich war allein zu Hause und machte die Bürotür zu. Meine Familie nutzte den Eingang des Nachbarhauses und schlich sich über den Durchgang in der neunten Etage in unseren Aufgang. Erwischt! Überall totgeschminkte Kinder, die nach Süßigkeiten bettelten.

Im Familien-Chat der Großfamilie wurden Gruselvideos geteilt und mit entsprechenden Emojis kommentiert. Meine Schwiegermutter setzte ihren eigenen Akzent: "Damit kann ich mich nicht anfreunden, für mich ist heute Reformationstag". Zuvor hatte sie darum geworben, mit uns zusammen das Abendmahl in der Dorfkirche Marzahn einzunehmen. Das entsprach nicht ganz so unseren Vorstellungen. Dennoch kamen meine Frau und ich ihrem Wunsch nach.

Bereits an der Tür begegnete uns eine junge Frau in knallrotem Mantel. Soviel Frische hatte ich nicht erwartet. In der Kirche war es gut geheizt, aber nicht überheizt. In den Bänken saßen viele ältere Herrschaften. Wir platzierten uns auf einer der vorderen Reihen, damit meine Schwiegermutter gut hören konnte.

Es kamen weitere Besucher, auch jüngere Leute. Die Empore war voll. Der ökumenische Chor, bestehend aus evangelischen und katholischen Sängern, hatte sich auf diesen Abend gut vorbereitet. Geleitet wurde er vom Kantor der benachbarten katholischen Kirche. Die Beziehungen zwischen den beiden Gemeinden bestehen schon sehr lange. Immer wieder werden gegenseitig Räume zur Verfügung gestellt und Feste des Kirchenjahres gemeinsam zelebriert.

Der Gottesdienst zum Reformationstag lief mit einer umfangreichen Liturgie ab. Lieder von Paul Gerhard und anderen bekannten Kirchenmusikern wurden gesungen oder durch den Chor vorgetragen. Da Pfarrer Ludewig verhindert war, führte ein theologischer Mitarbeiter durch das Programm und hielt auch die Predigt.

In der Predigt ging es um den Galaterbrief mit der Kernaussage (Galater 5, 1): "Zur Freihat hat uns Christus befreit". Freiheit, die in Verantwortungsbewusstsein gelebt wird und uns entspannt das Richtige zur richtigen Zeit tun lässt. Im Mittelpunkt stand Jesus. Jesus war auch das Bindeglied des heutigen Abends für die katholischen und evangelischen Christen.

Dann sangen wir zusammen mit den Katholiken noch den Reformationsklassiker "Ein feste Burg", sprachen das Glaubensbekenntnis und nahmen gemeinsam das Abendmahl ein. Drei Sachverhalte, die normalerweise in dieser Form nicht üblich sind.

Bei den Ansagen erfuhren wir, dass das katholische Gemeindehaus zurzeit renoviert wird. deshalb nutzt die Gemeinde die evangelische Dorfkirche für ihre Gottesdienste und sonstigen Veranstaltungen. Auch das Martinsfest wird in diesem Jahr in der Dorfkirche stattfinden.

Montag, 8. Oktober 2018

Mitmachen Gehen Zerstören - Umgang mit geistlichem Machtmissbrauch

Vertuschung, Kontrollzwang, Masken, Intrigen und irritierende Gespräche könnten ein Indikator für geistlichen Missbrauch sein. Oft scheitert es schon an der Benennung, so dass Betroffene völlig isoliert damit fertig werden müssen. Betroffen sind meist fitte und aktive Christen, die in Konflikt mit ihrem unsicheren oder inkompetenten Leiter geraten.



Die Sommerpause war diesmal besonders lang. Kaum Pressetermine, wenige Kundenanfragen, keine Fernreise. So wurde die Sommerzeit dazu genutzt, unser Gartenhaus von normal in Schwedisch umzufärben. Also nicht Blau und Gelb, sondern robustes Falunrot mit weißen Kontrastlinien. Damit waren wir zwei Wochen beschäftigt. Aus Langeweile las ich mir das Weißbuch der Bundesregierung von 2016 durch und hatte trotzdem immer noch viel Zeit.

Schreib' doch endlich mal das Buch!

"Schreib' doch endlich mal das Buch über geistlichen Missbrauch!", kam die Anregung aus der Familie. Hm, aber wo anfangen? Ich setzte mich hin und begann bei der Skizzierung der Ereignisse, die nun schon drei Jahre zurücklagen. Nach einer Woche war das Manuskript auf 120 Seiten angewachsen. Erlebnisse und Prinzipien wurden miteinander kombiniert, so dass der Text einen Mix aus gut lesbarer Story und Wissen darstellte.

Mitmachen Gehen Zerstören - Umgang mit geistlichem Machtmissbrauch - Matthias Baumann
Mitmachen Gehen Zerstören - Umgang mit geistlichem Machtmissbrauch - Autor: Matthias Baumann - Was haben wohl ein Teppich und ein Besen mit geistlichem Machtmissbrauch zu tun?
Um einen möglichst hohen Mehrwert für eine breite Leserschaft zu bieten, sandte ich das Manuskript an etwa zehn Personen. Darunter waren Weggefährten, Betroffene aus anderen Missbrauchssystemen und völlig unbeteiligte Berater, auf deren Meinung ich einen großen Wert lege. Den angefragten Pastoren war das Thema wohl zu heiß. Deshalb konnte keine pastorale Meinung in das Buch einfließen.

Resonanz auf das Manuskript

Die Resonanz war ermutigend und erschütternd zugleich. Ungeahnt schnell hatten meine Lektoren das Manuskript durchgelesen und gaben mir teilweise sehr ausführliche Rückmeldungen. Dadurch konnten weitere Sichtweisen und Beispiele in das Buch aufgenommen werden. Die wenigen mit Ironie gewürzten Passagen wurden entfernt und eine große Schnittmenge der allgemeinen Lesbarkeit und Verständlichkeit eingearbeitet. Vielen Dank!

Erschütternd war, dass auch die als unbedarft angesehenen Leser massiv an alte Situationen erinnert wurden. Jeder der Leser war getriggert. Triggern heißt, dass als vergessen geglaubte Dinge plötzlich wieder hochkommen und erneut verarbeitet werden müssen. Wenn kein Heilungsprozess stattgefunden hat, kann die Wunde erneut aufreißen. Allein das Manuskript hatte Denkprozesse angestoßen, die für eine abschließende Heilung nützlich sein können.

Drei Optionen

Der Titel des Buches setzt sich aus den drei Optionen zusammen, die einem Betroffenen bei geistlichem Machtmissbrauch zur Verfügung stehen: Mitmachen oder Gehen oder Zerstören. Dabei ist Mitmachen die schlechteste Lösung, Gehen die gesündeste Lösung und Zerstören die schwerste Lösung. Auf den über 150 Seiten geht es um den schleichenden Beginn, die heiße Konfliktphase, das Danach, die konkreten Schritte zur Heilung und letztlich die Möglichkeiten des Zerstörens solcher Missbrauchssysteme.

Das Coverbild der ersten beiden Auflagen war kurz vor dem Besuch des Vorsitzenden des Ministerrates von Bosnien und Herzegowina am 13. August 2018 im Kanzleramt entstanden. Besen und Teppich symbolisieren eines der wichtigsten Prinzipien des geistlichen Missbrauchs: unter den Teppich kehren.

Wichtiger Hinweis (23. Januar 2019):

Wegen des regen Feedbacks zur ersten Auflage wurde das Buch noch einmal gründlich überarbeitet. Es ist auch ein längerer Abschnitt zum Thema "Korpsgeist" ergänzt worden. Korpsgeist ist das größte Dilemma bei der Aufklärung und Aufarbeitung von geistlichem Missbrauch.

Das Buch liest sich jetzt noch flüssiger und schneller. Wer ab dem 5. Januar 2019 über Amazon bestellt hat, sollte schon die zweite Auflage erhalten haben. Auch das eBook wurde auf die zweite Auflage umgestellt.

3. Auflage unter neuem Titel (8. Juli 2019)

Ein Treffen mit dem Täterumfeld im Mai 2019 zeigte Ansätze von Aufarbeitungswillen und dass das Buch wie eine Granate am Ziel eingeschlagen war. Deshalb wurde das Buch noch einmal komplett überarbeitet und stärker anonymisiert. Letzteres war das Hauptanliegen des Täterumfeldes. Laut Pressekollegen und externer Betroffener sei das zwar nicht notwendig gewesen, aber die zarten Versuche der Etablierung von Mechanismen gegen geistlichen Machtmissbrauch wollte ich durchaus würdigen.

Bei dieser Gelegenheit wurde der Titel geändert in: "Kontrollzwang Vertuschung Gespräche - Was tun bei geistlichem Machtmissbrauch?". Da viele Betroffene erst einmal das Problem benennen müssen, macht sich ein Titel mit den Symptomen geistlichen Machtmissbrauchs wesentlich besser, als ein Titel, der die Lösungsvarianten "Mitmachen Gehen Zerstören" vorgibt.

Das Buch enthält jetzt noch mehr Seiten und weitere Beispiele aus der Missbrauchsszene. Es ist als Taschenbuch und als eBook erhältlich.

Montag, 10. September 2018

Evangelische Allianz in Berlin

Die Evangelische Allianz kennt Otto Normalchrist eigentlich nur durch die Einladungen zur Gebetswoche Anfang des Jahres. In der letzten Woche besuchte ich ein Meeting von Verantwortlichen der Region Berlin und war überrascht.



Die Allianz-Gebetswoche gilt als das Flaggschiff der Deutschen Evangelischen Allianz. Grau-weißes Haar, muffige Gemeinderäume, uralte Lieder und Absitzen einer Pflichtveranstaltung sind die Assoziationen, die sich bezüglich der Gebetswoche eingebrannt haben. Die Allianz-Gebetswoche findet immer im Januar statt - oft begleitet von Kälte, Nässe, Schnee.

Entsprechend war auch meine Erwartungshaltung, als ich am Freitag die EFG Tempelhof ansteuerte. Einmal im Jahr trifft sich dort die Evangelische Allianz der Region und beredet die nächsten Aktivitäten. Als ich den Raum betrat, war ich jedoch überrascht:

Überraschung beim Alter

Etwa die Hälfte der Anwesenden war jünger als ich. Dynamische Pastoren aus Pankow, Prenzlberg oder Westend saßen an den Tischen und interessierten sich für eine Durchdringung der Stadt mit christlichen Inhalten. Eine Frau aus Tegel berichtete über das interkonfessionelle Gebet und Gebetskreise am Gymnasium ihrer Tochter. In Berlin gebe es sogar ein Gebetshaus, das 24/7 ausgelastet sei.

Es tut sich also etwas in Berlin. Insbesondere ist eine gravierende Verjüngung der Beter selbst festzustellen. Die jungen Aktivisten interessieren sich nicht mehr für konservierte Formen einer Januar-Gebetswoche, sondern beten, wo und wann es gerade passt. Eine ältere Teilnehmerin hatte sich das Frühgebet von Berufstätigen angeschaut und war beeindruckt über das Aufstehen zu nachtschlafender Zeit und die Intensität der Gebete.

Klimaveränderung in der Großstadt

Wie das Beispiel New York City zeigt, kann gemeinschaftliches Gebet und überkonfessionelles Handeln das Klima einer ganzen Stadt verändern. In New York City wurde klar definiert, dass eine große Stadt viele verschiedene Gemeinden braucht, um viele verschiedene Menschen erreichen zu können. Dort wird Diversität in Einheit gelebt - mit geistlichem Erfolg. Die Evangelische Allianz in Berlin hat auch solch ein Potenzial. Flankiert durch die drastische Verjüngung kann dieses Potenzial zur Entfaltung gebracht werden.

Von einmal pro Woche zu einer Woche pro Jahr

Als die Evangelische Allianz 1846 gegründet wurde, gab es eine Aufbruchsstimmung unter den evangelischen Christen. Die drei wichtigsten Ergebnisse der Gründungskonferenz in London waren das gemeinsame Gebet einmal pro Woche, die aktive Vernetzung von Gemeinden und ein Lebensstil, der Christen in der Gesellschaft sichtbar macht.

Das Gebet pro Woche wurde inzwischen auf eine Woche pro Jahr reduziert. Die anderen beiden Werte werden durch neue Gemeinden in der Stadt disruptiert. Das heißt, neue Gemeinden leben das einfach, während etablierte Gemeinden lieber im eigenen Saft schmoren und mal eben zur Allianz-Gebetswoche auf regionale Einheit machen.

Bei unseren Wanderungen durch die Stadt haben wir mehrere Parallelwelten erlebt, die oft nur wenige Meter voneinander entfernt existieren. Trotz sehr ähnlicher theologischer Prägung, gibt es keine Verzahnung. Dabei könnten Synergien entstehen, die sich positiv auf sämtliche Bereiche auswirken würden.

Gemeinsam

Die Evangelische Allianz in Berlin arbeitet sehr eng mit dem Gemeinsam für Berlin e.V. zusammen. Dieser verfolgt als Nebenschauplatz die gleichen Ziele wie die Allianz und bringt sogar Katholiken, Kopten und Orthodoxe an einen Tisch. Bei EINS sitzen die Christen unterschiedlicher Denominationen nicht nur an einem Tisch. Sie beten auch gemeinsam, haben gemeinsame Andachten und informieren sich gegenseitig über ihre Freuden und Herausforderungen. Daraus kann eine Bewegung entstehen, die tatsächlich die Stadt verändert - positiv wie New York City.

Das Treffen in der EFG Tempelhof war also eine positive Erfahrung mit einer Bewegung, die ich bisher als verstaubt und wenig relevant wahrgenommen hatte. Deshalb nahm ich mir eines der Informationshefte zur "Verantwortung der Christen in Staat und Gesellschaft" mit. Die Evangelische Allianz setzt sich nämlich auch im politischen Umfeld für biblische Werte ein und hat in Uwe Heimowski einen kompetenten Vertreter bei der Bundesregierung.

Die Evangelische Allianz bildet die Schnittmenge aus Christen, die ihre Basis in Jesus und der Bibel sehen und theologische Unterschiede wie das Tauf-Alter, die Form des Abendmahls, die Leitungsstrukturen und andere Sekundärthemen um der Einheit willen außen vor lassen können.

Montag, 3. September 2018

Startup.Life Berlin - Young Professionals treffen sich in der Digital Eatery

Startup.Life ist ein neues Format des Gemeinsam für Berlin e.V. und dient der Vernetzung junger Unternehmer und Führungskräfte aus der christlichen Szene Berlins.



Wer den Titel übersetzen kann, gehört dazu. Alle anderen können hier abbrechen und sich wieder ihren bevorzugten Themen zuwenden. Ich kann den Titel zumindest sinngemäß in Alltagsdeutsch übersetzen. Dennoch gehöre ich nur bedingt dazu. Warum? Mein erstes Start-up liegt 18 Jahre zurück und Young ist auch schon eine Weile her.

Bei Start-ups denkt der Beobachter der Berliner Wirtschaft an Firmen, die im Technologiesektor angesiedelt sind und eine Lebensdauer von maximal drei Jahren haben. Dann kommt entweder die Ernüchterung der Steuernachzahlung oder der Kapitalgeber steigt aus oder die Firma wird an einen Strohmann verkauft. Über 30% der Start-ups überleben tatsächlich die ersten drei Jahre nicht.

Heute Abend fand das erste Treffen - pardon Meeting - der christlichen Start-up-Szene in einer prominenten Location statt: der Digital Eatery in der Straße unter den Linden. Betreiber des digitalen Essens ist Microsoft. Wer hier seinen Cappuccino trinkt, kann hautnah die moderne Work-Life-Balance erleben. Zu Deutsch die Ausgewogenheit zwischen Arbeit und Privatleben. Eine Bankerin kommentierte kürzlich einen Vortrag zum Arbeitsumfeld der Zukunft mit "Work-Life-Life-Life-Balance" und karikierte damit den eher ungesunden Trend zur spaßbezogenen Arbeitskultur. Studenten hatten dabei die Wünsche ihrer Kommilitonen erfasst und im Berlin Capital Club - gesprochen Börrlinn Käppitell Klapp - präsentiert.

Ich war heute extrem früh in der Digital Eatery und hatte leider mein Smartphone zu Hause in der Steckdose gelassen. Wer die Start-up-Phase überlebt hat, kommt normalerweise auch ohne ständige Erreichbarkeit aus. Hier hätte es aber zum guten Ton gehört und die Wartezeit auf den Beginn sehr gut überbrückt.

Die Damen von Gemeinsam für Berlin und Rainer Schacke vom BIT, dem Berliner Institut für urbane Transformation liefen emsig durch die Eatery und trafen die letzten Absprachen. Immer mehr junge Leute füllten den Raum. Gefühlt 30% waren regelmäßige Besucher von Saddleback. Der Rest verteilte sich auf die anderen Berliner Trendgemeinden wie ICF, Berlin Projekt oder Hillsong. Hinter mir saß Filmemacher Julius Schindler. Auch kein wirklicher Start-up, dafür aber erfahren im Crowd Founding - gesprochen Kraut Faunding. Crowd Founding bedeutet, dass Gelder für ein Projekt über die Crowd - eine Masse von Investoren - aufgebracht werden.

Kurz nach halb acht waren alle Plätze besetzt - sehr zur Freude der Veranstalter. Die Young Professionals waren bei namhaften Firmen wie Zalando tätig oder fühlten sich einfach als Führungskraft. Kaum jemand von denen, die ich im Saal erkannte, war tatsächlich Unternehmer. Ich ließ mich vom Programm überraschen.

Es gab drei kurze Einleitungen und den längeren Impuls-Vortrag einer Brasilianerin, der ich schon mehrfach bei Saddleback begegnet war. Es ging um Venture Capital, Burnout und das konsequente Leben christlicher Werte am Arbeitsplatz. Alle Programmpunkte wurden auf Englisch vorgetragen. Es outete sich niemand, dass er das nicht verstehe. Nur gut, sonst wäre ich für die Simultanübersetzung zuständig gewesen. Also konnte ich mich an der großen Tasse mit Café Americano festhalten und dem Vortrag lauschen. Gegen neun folgten noch drei kurze Elevator Pitches - Kurzvorstellungen von eigenen Angeboten - und dann war Schluss.

Da meine Life-Balance signalisierte, dass ich für heute keine Lust mehr auf Englisch habe, verließ ich relativ schnell die Location. Draußen standen die jungen Führungskräfte und unterhielten sich angeregt über ihre Profession oder andere Dinge. Auch im Saal waren noch viele Gespräche im Gange - alles auf Englisch - selbst unter Deutschen.

Das nächste Treffen von Startup.Life Berlin ist für November geplant. Der Markt für diese berufliche Vernetzung ist auf alle Fälle gegeben. Dass Christen unterschiedlicher Gemeinden auch außerhalb der Gemeinderäume zusammenkommen, ist mir schon lange wichtig. Passt es doch gut zum in New York vorgestellten Modell des Dreibein-Hockers oder den Prinzipien der 97 Prozent.

Sonntag, 24. Juni 2018

Gerhard Schnitter wollte den David hören

Stabile familiäre Beziehungen beeinflussen die Entwicklung der Kinder. Musikproduzent und Komponist Gerhard Schnitter zeigt uns, wie das geht.



Wieder einmal konnte ich mit meinem Haarschnitt erschrockene Gesichter provozieren. Dabei wollte ich diesmal nur etwas nachschneiden. Frau und Tochter versuchten sich an der Schadensbegrenzung. Tapfer begleiteten sie mich auf der Fahrt zum Gottesdienst. Auch der Technikleiter von Saddleback starrte mich fassungslos an und fand keine Worte. Ein guter Bekannter aus dem Wellcome-Team erkannte mich gar nicht. Schnell verkrümelte ich mich in den Glaskasten. Von dort aus sollte ich heute das Rahmenprogramm übersetzen.

Der Saal füllte sich. Der Pastor mit seiner Frau waren zu einer Konferenz nach Kalifornien geflogen. Deshalb wurden ihre Kinder von den Großeltern betreut: Elisabeth und Gerhard Schnitter. Sie setzten sich in eine der Reihen vor dem Glaskasten. Gerhard Schnitter hatte einen Kopfhörer dabei.

Unzählige Jugendlieder der letzten vierzig Jahre tragen die Signatur Gerhard Schnitters. Er schrieb nicht nur Lieder. Er baute auch diverse Chöre auf. Besonders prägend waren seine 15 Jahre beim ERF. Das agile Ehepaar ging nach dem Renteneintritt - also 2006 - nach Paraguay, wo Gerhard Schnitter den Chor einer deutschen Gemeinde mit rund 400 Mitgliedern leitete.

Die 78 Jahre sieht man ihm nicht an. Mit Glatze und Hornbrille wirkt er wie ein 60-jähriger Prenzlberger. Dabei kommt er aus dem beschaulichen Süddeutschland. In der christlichen Szene ist er gut vernetzt und als Gesprächspartner gefragt. Auch mit Schauspieler Rolf-Dieter Degen hat er musikalisch zusammengearbeitet.

Gerhard Schnitter setzte während der Video-Predigt von Rick Warren die Kopfhörer auf. Die Ansagen schien er auch so verstanden zu haben. Seine Frau nutzte keine Kopfhörer.

Nach dem Gottesdienst sagte mir Yilmaz vom Welcome-Team, dass er mich nur wegen meines nebenstehenden Sohnes erkannt habe. Zwei der wenigen Deutschen bei Saddleback blickten grinsend auf meine Frisur und kamen zu einem Smalltalk auf mich zu. Langsam wurde ich unsicher.

Dann kam Gerhard Schnitter mit seiner Glatze vorbei. Er schaute und kam auf mich zu. "Wir kennen uns doch", war der Einstieg zu einem kurzen aber wichtigen Gespräch. Ja, er schreibe noch Lieder. Er und seine Frau seien diese Woche hier wegen der Enkel.

Ich fragte ihn, ob er denn gut mit dem Englischen klar gekommen sei. "Ich wollte David hören", entgegnete er darauf. "Ich wollte hören, wie er das so macht", schob er nach. Gelebtes Interesse eines Vaters an seinem Sohn. David alias Dave Schnitter übersetzt sämtliche Saddleback-Predigten ins Deutsche. Dabei trifft er genau unseren Sprachgebrauch und ersetzt sogar die Witze in deutsche Analogien.

Gerhard Schnitter versteht Englisch. Die Stimme seines Sohnes war ihm aber wichtiger.

Samstag, 2. Juni 2018

Geduld: Savlanuth und die defekte Hupe

Savlanuth ist Hebräisch und wird mit Geduld übersetzt. Geschwindigkeit kann ein wichtiger Motivator sein, der mit Savlanuth kollidiert. In den letzten Tagen gab es Situationen, die mich der Savlanuth näher brachten.


Es begann mal wieder kurz vor Ablauf der Garantiezeit. Bei einem beherzten Linkseinschlag fing meine Hupe an zu hupen. Wahrscheinlich der Schalter verklemmt. In den folgenden Tagen geschah das immer öfter - bei Linkskurven, bei Bodenwellen und im Stand. Da die Erwartung des Werkstatt-Termins einige Geduld erforderte, ließ ich die Sicherung 62 ziehen. Das war eine Sofort-Lösung, die keine Geduld erforderte.

Mit gezogener Sicherung 62 nahm ich dann einige Wochen am Straßenverkehr teil. Das ist in Deutschland unkritisch, da für den normalen Fahrbetrieb keine Hupe gebraucht wird. Zumindest widerspricht eine Hupe der verkehrstechnischen Lebenserfahrung. In Ländern des südlichen und westlichen Europas mag das anders sein. Es gab allerdings einen Haken: Ich konnte die vor mir wartenden Verkehrsteilnehmer nicht mehr darauf hinweisen, dass es soeben Grün geworden war.

Was ist dein Antrieb?

Ein Hammerschlag gegen meine Psyche. Hatte ich doch vor zwei Jahren einen Test mitgemacht, bei dem es um unsere Antriebskräfte ging. Es gab fünf Antriebe zur Auswahl:

- Perfektionismus: Sei perfekt!
- Geschwindigkeit: Mach schnell!
- Anstrengung: Streng dich an!
- People Pleaser: Mach es allen recht!
- Stärke: Sei stark!

Nach der Beantwortung von 50 Fragen stand fest, was mir auch vorher schon klar war: Geschwindigkeit ist mit deutlichem Abstand mein Antrieb Nummer Eins. Dann eine Weile nichts. Dann auf etwa gleicher Höhe die Antriebe Perfektion, Anstrengung und Stärke. Es allen recht zu machen, treibt mich so gar nicht an.

Ungeplante Lektion in Geduld

Und dann fiel die Hupe aus. Eine willkommene Gelegenheit, mal über Savlanuth (סבלנות) in der Alltagspraxis nachzudenken. Wann immer ich an einer Grün gewordenen Ampel von anderen Verkehrsteilnehmern blockiert wurde, dachte ich an meinen Antrieb und an Savlanuth. Savlanuth und die gezogene Sicherung 62 halfen mir, eine gewisse Entspanntheit in die Ampelsituation hineinzubekommen.

Nachdem die Hupe dann wieder repariert war, gab es eine nächste Lehreinheit zur Geduld. Zu Fuß war ich unterwegs zum S-Bahnhof. Ich wollte mit der Bahn zu einer der vielen Veranstaltungen zum 70. Geburtstag von Israel fahren. Das Timing war super. Schnellen Schrittes betrat ich die Drehtür des Einkaufszentrums vor dem S-Bahnhof. Genau in der Mitte stellte die Tür ihre Bewegung ein. Ich blickte auf die Uhr. Und was dachte ich in diesem Moment? "Israel - Savlanuth - Passt ja!"

Das nahm den Stress aus der Situation. Nach zwei Minuten oder so lief die Drehtür wieder an und ich schaffte tatsächlich noch die begehrte S-Bahn.

Viele Betroffene

Geduld alias Savlanuth ist eine große Herausforderung für viele Zeitgenossen. Bei einem Test in der Männergruppe der LKG Eben Ezer stellte sich heraus, dass viele von ihnen ähnlich ticken wie ich. Einer davon ist nun im Ruhestand und hetzt so durch die Gegend, dass Einladungen zur Grillparty oder zum Gebetsabend nicht mehr in den Kalender passen.

Geduld ist erlernbar!

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Savlanuth erlernbar ist. Etwa 2014 hatte ich damit begonnen, auf Urlaubsreisen konsequent E-Mails und Handy zu ignorieren. Allein SMS bezüglich von Server-Abstürzen oder Anrufe von der Alarmanlage meines zu Hause gebliebenen Autos wurden behandelt.

Zunächst praktizierte ich das bei einwöchigen Trips. Das steigerte sich dann auf drei Wochen Kommunikations-Pause während anschließender Reisen. Das klappt tatsächlich gut, auch wenn gelegentlich nach drei Wochen eine vierstellige Anzahl von Mails sortiert werden muss. Aber egal: Die bewusste Entschleunigung schafft eine Tiefenentspannung, aus der heraus die aufgelaufenen Themen bearbeitet werden können. Vieles hat sich dann zwischenzeitlich ohnehin von selbst geklärt.

26 Stunden ohne Internet

In dieser Woche waren bei uns für 26 Stunden Telefon und Internet ausgefallen. Die Kinder putzten die Wohnung, der Abwasch wurde erledigt, die Wäsche wurde gewaschen, Sport getrieben, Datensicherungen gefahren, die Mikrowelle repariert und Kapitel über Kapitel in der Bibel gelesen. Die besondere Kunst der Geduld besteht ja darin, sich in der Zwischenzeit anderweitig zu beschäftigen.

Als das Internet dann wieder da war, hatte die Sucht nachgelassen. Mein Sohn spielte weiter Ukulele, meine Tochter machte Hausaufgaben und ich schaltete den Rechner einfach aus, nachdem ich das Tagesgeschäft erledigt hatte. Geht alles!

"Geduld tut Not", lesen wir in Hebräer 10 Vers 36. Geduld und Entschleunigung können unserem Leben auch einen guten Antrieb liefern.

Sonntag, 27. Mai 2018

60 Jahre Aktion Sühnezeichen

Auch in diesem Jahr gibt es wieder viele Geburtstage. Heute feierte Aktion Sühnezeichen sein 60. Jubiläum. Ich besuchte dazu den Gottesdienst in der Französischen Friedrichstadtkirche.



So früh war ich wohl noch nie zum Gottesdienst erschienen: 60 Minuten vor Beginn. Nach einer kurzen Personen-Kontrolle betrat ich den Saal. Schon etwa die Hälfte der Plätze waren besetzt oder mit Taschen und Jacken reserviert worden. In der zweiten Reihe erspähte ich einen Stuhl ohne Tasche, Jacke oder Handtuch. Er war tatsächlich noch frei.

Die Tasche neben mir gehörte einer älteren Dame, die freundlich grüßte und sich als Frau eines Aktivisten von Sühnezeichen vorstellte. Sie sei aus Leipzig angereist und fragte, wie ich denn mit der Aktion Sühnezeichen verbandelt sei. "Gar nicht", sagte ich und verwies auf den Terminkalender des Bundespräsidenten. Dieser sollte am Gottesdienst und dem anschließenden Festakt teilnehmen. Deshalb auch die Anmeldung mit Name und Geburtsdatum, die Kontrollen am Eingang und das gelbe Bändchen mit der Aufschrift "Bundeskriminalamt".

Frank-Walter Steinmeier erschien recht unspektakulär 10 Minuten vor der Zeit. Zunächst stand er unbeachtet am Eingang - und stand und stand. Dann war der Chorleiter mit seinen Ansagen fertig und der Bundespräsident wurde offiziell begrüßt. Er durfte in der ersten Reihe direkt vor dem Altarbereich sitzen. Elke Büdenbender - seine Frau - war nicht dabei.

Normalerweise ist der Spitzenpolitiker das Maß aller Dinge und bestimmt mit seinem Erscheinen den Beginn. In der Französischen Friedrichstadtkirche war das heute anders. Zehn Minuten des Wartens, zehn Minuten der Stille. Keiner betrat mehr den Saal. Die Uhr des Organisten bestimmte den Beginn: Punkt zehn griff er in die Tasten.

Während des Gottesdienstes erfuhren wir viel über Aktion Sühnezeichen. So sei die Organisation aus dem Impuls entstanden: "Man kann es einfach tun". Die Betonung liegt auf dem Tun. Der sperrige Begriff Sühnezeichen wurde bewusst gewählt und auch über die Jahrzehnte beibehalten, da kein passenderes Wort gefunden werden konnte.

Wofür aber Sühne? Zwischen 1938 und 1945 war ein Drittel der gesamten jüdischen Weltbevölkerung ausgelöscht worden. Daran waren maßgeblich Menschen aus Deutschland beteiligt: als aktive Täter, Desinteressierte oder willige Masse. Solch ein Genozid schreit nach Vergeltung. Sühne kann also einerseits mit Rache zur Vergeltung angegangen werden oder andererseits als Reue und Wiedergutmachung. Aktion Sühnezeichen hat sich der letzteren Form verschrieben und setzt seit 1958 auf konkrete Hilfe für Überlebende und deren Nachkommen.

Bischof Dröge predigte über 5. Mose 32, 46-47 und kam über die Brücke der zehn Gebote immer wieder auf das Tun von Aktion Sühnezeichen zurück. Wenn jemand schuldig geworden sei, solle er um Vergebung bitten. Die Aktion Sühnezeichen sei eine "tatkräftige Bitte um Vergebung".

Dieser Gottesdienst machte bewusst, dass die Pogrom-Nacht von 1938 auch eine göttliche Dimension hatte. Damals waren in Berlin 9 von 15 Synagogen zerstört worden. Die Schriftrollen mit dem Gesetz - also auch den 10 Geboten - waren herausgeholt, zerschnitten und verbrannt worden. Markus Dröge kennt die protestantische Denkweise, die dem Gesetz normalerweise so begegne, dass der Freiheit in Christus der Vorrang eingeräumt werde. Zu Deutsch: "Wir müssen nichts tun".

Aktion Sühnezeichen tut und hat dabei keine Nachwuchs-Probleme. In den 60 Jahren des Bestehens waren etwa 25.000 Menschen losgezogen und haben Zeichen der Sühne getan. Hauptfokus: Israel. Das Aufgabenspektrum ist inzwischen gewachsen. Es geht um Hilfe für Behinderte, Minderheiten, Flüchtlinge, Sinti und Roma sowie um zivilen Ungehorsam und Akzente gegen Populismus.

Aktion Sühnezeichen hatte für heute Mittag auch zur Gegendemonstration anlässlich einer AfD-Veranstaltung vor dem Hauptbahnhof aufgerufen. Diese Demo zog sich relativ ungeordnet über das Regierungsviertel bis zur Friedrichstraße. Nach dem Gottesdienst mit Aktion Sühnezeichen hatte ich mich mit meiner Familie an der Kalkscheune verabredet. Dort wurden wir Zeugen, wie es aussieht, wenn es auf den Straßen Berlins brennt. Diesmal brannten - wenige Meter von der Synagoge in der Oranienburger Straße entfernt - keine Thora-Rollen, sondern Mülltonnen.

Sonntag, 6. Mai 2018

Bullets, Warriors, Katholiken und die Gottesdienste in Eberswalde

Das erste Football-Spiel unseres Sohnes fand heute in Eberswalde statt. Die Zeit zwischen Abliefern des Kindes und Spielbeginn nutzten wir zum Besuch eines katholischen Gottesdienstes im Ortsteil Eberswalde-Finow.



"Warum wohnen wir nicht in Eberswalde?", fragte unsere Tochter nachdem wir unseren Sohn am Wasserturm rausgelassen hatten. Rechts und links saftige Wiesen, kleine Wäldchen, flache Häuser, gepflegte Altbausubstanz, hier noch ein See und dort neues Kopfsteinpflaster. Warum eigentlich nicht? Das sah hier ganz nett aus.

Im Vorfeld hatte ich bei Google nach Kirchen in Eberswalde gesucht. Die Ergebnisse waren übersichtlich: Baptisten, eine evangelische Kirche, eine freie Christus Gemeinde Eberswalde, eine neuapostolische Gemeinde, eine methodistische Gemeinde und zwei katholische Gemeinden. Neuapostolisch hatten wir bisher nicht auf dem Radar. Die Webseiten der Methodisten, Baptisten und Evangelischen Kirche waren so altbacken oder rudimentär, dass ein Besuch ebenfalls ausschied.

Christus Gemeinde Eberswalde und das erste Spiel der Berlin Bullets

Den interessantesten Eindruck vermittelte die CGE Christus Gemeinde Eberswalde. Deren Gottesdienst sollte von zehn bis zwölf gehen. Das kollidierte jedoch mit dem Spielbeginn der Berlin Bullets gegen die Eberswalde Warriors um elf.

Ein halbes Jahr hatte unser Sohn auf dieses erste echte Spiel hintrainiert: American Football. American Football hat mit Fußball so gut wie gar nichts zu tun und ist eine Sportart mit Schubserei, Festhalten, Umrennen, vielen blauen Flecken und undurchsichtigen Regeln. Die Amis stehen darauf. Deshalb läuft alles auf Englisch mit Quarterback, O-Line, Defense und ähnlichen Begriffen, die unser Sohn inzwischen komplett beherrscht.

St. Theresia zum Kinde Jesu

Blieb also noch die katholische Kirche St. Theresia vom Kinde Jesu, wo der Gottesdienst um 8:30 Uhr begann. Oh, war das früh! Um diese Zeit mussten wir aber unseren Sohn abgegeben haben und hatten dann noch zweieinhalb Stunden Zeit.

St. Theresia ist eine kleine Backsteinkirche auf einem Eckgrundstück. Der Innenraum ist hell und freundlich. An den Wänden sind Reliefs mit dem Kreuzweg eingelassen. Der Altarbereich dieses schlichten Raumes freute mich besonders - endlich mal wieder Latein: "Agnus Dei qui tollit peccatum mundi". Das steht in Johannes 1 Vers 29 und bedeutet: "Das Lamm Gottes, das wegnimmt die Sünde der Welt". Meine Tochter schaute skeptisch, da sie Wörter wie peccatum (Sünde) in der Schule nicht gelernt hatte.

Der Saal füllte sich, so dass letztlich etwa 30 Personen auf den Holzbänken saßen. Das Durchschnittsalter lag bei 70. Eigentlich schade, denn die Ansagen des Pfarrers und dessen Predigt waren wirklich kurzweilig und gut. Er sprach frei, hielt Blickkontakt zu den Besuchern und redete wie ein Mann, der die Alltagssprache und die Herausforderungen seiner Nachbarn kennt. Unterstützt wurde er von zwei Messdienern im Teenager-Alter. Diese beäugten uns unentwegt, da wir den Altersdurchschnitt so signifikant nach unten korrigierten.

Katholisch heißt "für alle da"

In der Predigt zu Apostelgeschichte 10 - der heidnische Hauptmann Cornelius wird getauft - machte der Referent klar, dass auch Cornelius katholisch wurde. Katholisch im Sinne von "für alle da". Mir kam dabei ständig in den Sinn, dass auch Luther katholisch gewesen sei, obwohl man ihn heute in einer anderen Ecke einordnet. Die Predigt ermutigte, dass auch eine katholische Gemeinde wieder praktisch für alle da sein sollte. Dass sich der biologische Nachwuchs ausgedünnt hatte, war ja deutlich zu erkennen.

Übrigens war ich bei Recherchen zum Nuntius des Heiligen Stuhls - also dem Botschafter des Vatikans - darauf gestoßen, dass Erzbischof Eterovic (Chef des Diplomatischen Korps in Deutschland) seit 2011 als Päpstlicher Rat zur Förderung der Neuevangelisierung fungiert. Dieser Rat zur Förderung der Neuevangelisierung wirkt gerade in Ländern, wo das Christentum schon lange beheimatet ist, jedoch durch die Säkularisierung an Bedeutung verloren hat. Genau in diesen Tenor stimmte die heutige Predigt bei St. Theresia ein.

Gesang ohne Instrumente

Bemerkenswert war auch die Musik. Der Gesang kam komplett ohne Instrumental-Begleitung aus und füllte das Volumen des Kirchenschiffs. Wegen der guten Beschilderung konnten wir fast alle Elemente der Liturgie mitsingen und schauten uns den Rest von den Leuten ab, die um uns herumsaßen. Es gab auch Abendmahl und den üblichen Friedensgruß mit Körperkontakt: Hände schütteln.

Nach dem Gottesdienst brachten wir die Gesangsbücher weg und traten in die gleißende Sonne. Über Kopfsteinpflaster rumpelten wir zum Wasserturm zurück.

Bullets versus Warriors

Die Berlin Bullets waren umgezogen und machten sich auf dem Platz warm. Die Warriors hatten zwei Hüpfburgen aufgeblasen und ein großes WARRIORS auf den Platz gepinselt. Warriors heißt Krieger, während Bullets die Patronen sind. Nach der ersten Halbzeit stand es 40 zu Null für die Eberswalder. Unentwegt war ich unterwegs, um Kuchen, Würstchen, Salat, Grillfleisch, Kaffee, Schirme oder Decken zu holen. Bei den Regeln sah ich ohnehin nicht durch. Ich wusste nur, dass mein Sohn die weiß-grüne 53 war. Den Rest konnte man unter Helm und dem Brustpanzer nicht erkennen. Meine Tochter hatte noch dafür gesorgt, dass er gelbe Turnschuhe trug. Das fiel auf.

Es war das erste Spiel dieser Mannschaft überhaupt. Deshalb waren die 40 zu Null zu verkraften. Insbesondere deshalb, weil in der zweiten Halbzeit keine weitere Veränderung des Spielstandes eintrat. Die erste Halbzeit war zum Üben, die zweite zum Bewähren. Wir sind gespannt auf das nächste Spiel.

Sonntag, 22. April 2018

Lutherisch auf Farsi in der Dreieinigkeits-Gemeinde Steglitz

Gottfried Martens aus der Dreieinigkeits-Gemeinde ist durch die Presse bekannt geworden. Er engagiert sich für Menschen aus dem Nahen und Mittleren Osten. Heute haben wir einen Doppelgottesdienst in Steglitz besucht.



Mein Begleiter trieb mich zur Eile. Wenn wir nicht pünktlich vor Ort seien, bekämen wir keinen Sitzplatz mehr. Über 1.000 Menschen mit Fluchtgeschichte gehören wohl zur Dreieinigkeits-Gemeinde in Steglitz. So entschieden wir uns, schon zur vorgelagerten Beichtandacht zu erscheinen. Diese begann um zehn.

Das Gemeindehaus steht auf einem Eckgrundstück in der Steglitzer Südendstraße. Parkplätze waren an der Straße vorhanden. Aus dem Küchenfenster klangen orientalische Klänge. Überall Schilder mit arabischen Schriftzeichen. Im Eingangsbereich wurden wir freundlich begrüßt. Ein dunkelhaariger Mann reichte uns die drei benötigten Gesangsbücher und ein separates Liedblatt.

Sieben Kreuze und Vergebung

Da die Familie nicht dabei war, konnten wir uns in der dritten Reihe platzieren. Kirchenbänke mit Kissen. Im Altarbereich zählte ich sieben Kreuze: Kanzel, Kerzen, Altarkreuze und ein herzugetragenes Aufstellkreuz. Das war eine Steilvorlage für die Beichtandacht. Wir hatten ja schon einige lutherische Gemeinden erlebt, wo auf der Sündhaftigkeit des Besuchers herumgeritten wurde - teilweise mit bedrohlich gestalteten Liedtexten an der Wand.

Hier wurde ein klarer Gegenakzent gesetzt: Ja, es gibt immer wieder Sünde, aber es gibt auch Vergebung. So stand die Beichtandacht im Zeichen der Vergebung. Gruppen von etwa 20 Personen kamen in den Altarbereich, knieten sich nieder und bekamen auf Deutsch, Farsi und Englisch Vergebung zugesprochen. Dazu legte Gottfried Martens jedem die Hand auf. Auch mein Begleiter reihte sich ein und war dann im gefühlt siebten Durchlauf dabei. Die Wartenden nahmen kein Ende. Ich war beeindruckt.

200 Plätze und kein Smartphone

Die Sitzplätze im Saal und auf der Empore müssen um die 200 Personen fassen. An jedem Platz - also sechs Mal pro Holzbank - war ein Hinweis auf Farsi und Deutsch angebracht, dass wir uns der Gegenwart Gottes bewusst sein sollten und deshalb jegliche Benutzung von Smartphones als respektlos anzusehen ist. Wer sein Smartphone benutzen möchte, solle den Saal verlassen und erst nach dem Gottesdienst wieder betreten. Eine deutliche Ansage, die wohl ihre Gründe hat.

Der Übergang zwischen Beichtandacht und Gottesdienst dauerte etwa zehn Minuten. Der Saal füllte sich noch etwas, so dass die 200 Plätze nahezu ausgereizt waren. Niemand starrte auf sein Handy. Alle konzentrierten sich auf die Liturgie. Pfarrer Martens zelebrierte die lutherische Liturgie mit Hingabe und fast komplett ohne Textvorlage. Die Liturgie schien in ihm zu leben.

Da gefühlt 90% der Anwesenden Farsi sprachen, wurden die Bibeltexte auch in Farsi verlesen. Es wurde sehr viel gesungen: Kirchenlieder, Jugendlieder von 1990 und schwungvolle Lieder auf Farsi. Ich verstand kein Wort - doch: Pontius Pilatus. Farsi ist Amtssprache im Iran, in Afghanistan und in Tadschikistan. Als indogermanische Sprache klingt sie gar nicht arabisch, obwohl Farsi die gleichen Schriftzeichen hat. Es gibt weltweit etwa 70 Millionen Muttersprachler.

Verfall und Erneuerung

Mit Hingabe predigte Gottfried Martens über einen Text aus dem zweiten Korintherbrief: "Wenn auch unser äußerer Mensch verfällt, so werden wir doch am inneren Menschen von Tag zu Tag erneuert" (2. Korinther 4, 16). Nachts um drei habe er die Predigt vorbereitet - nach einem Tag der Herausforderungen und Rückschläge beim Einsatz für seine zum Christentum konvertierten Gemeindemitglieder. Am eigenen Körper erlebe er, wie er ermüdet. In der nächsten Woche fallen einige Veranstaltungen aus, da er "Schlaf-Urlaub" mache.

Ein Leuchten kam in seine Augen, als er den zweiten Teil des Predigttextes betrachtete. Wir werden täglich am inneren Menschen erneuert und erfrischt. Sehr plastisch malte er uns mit seinen Worten die Spannung zwischen äußerem Verfall und innerer Erneuerung - renovatur im Lateinischen - vor Augen. Ich betete für ihn, dass er in der nächsten Woche wirklich diese innere Kraft tanken kann.

Abendmahl mit Weißwein

Zum Abschluss des Gottesdienstes gab es Abendmahl. Dieses dauerte über eine halbe Stunde. Es müssen um die zehn Gruppen zu je zwanzig Leuten nach vorne gekommen sein. Der Pfarrer legte die Oblaten in den Mund jedes Einzelnen. Dann kam der Kelch mit Weißwein. Gerade der Wein muss eine besondere Herausforderung für ehemalige Moslems sein. Ein starkes Zeichen der Lebensveränderung.

Nach dem Gottesdienst verabschiedete Gottfried Martens alle Besucher persönlich. Äußerlich vom Stress gezeichnet, aber innerlich erneuert. Das verriet sein Blick, als er uns verabschiedete. Wir schauten noch kurz in den Essenssaal im Erdgeschoss und verließen dann die Dreieinigkeits-Gemeinde in Steglitz.

Samstag, 21. April 2018

Moskau Teil 4: Pastoren treffen sich in Selenograd

Gemeindegründung ist ein internationales Thema. Im 4. Teil ihres Reiseberichtes erzählt Gastautorin Martina über eine Pastoren- und Leiterkonferenz in Selenograd. Sie musste wohl erst nach Moskau reisen, um weitere Prinzipien guter Gemeindeleitung zu entdecken.



Als wir nach unserem Stadtausflug viel später als erwartet zur Baptistengemeinde von Selenograd zurückkehrten, hatte sich das Haus gut gefüllt. Wir versuchten, eine Aufgabe zu finden und halfen ein wenig bei der Registrierung. Dabei lernten wir weitere sehr freundliche Mitglieder aus der gastgebenden Gemeinde kennen.

Von den angereisten ca. 150 Pastoren und leitenden Mitarbeiter aus ganz verschiedenen Gemeinden und Gegenden Russlands konnten wir in den nächsten Tage einige kennenlernen. Es waren neben den Baptisten auch Christen aus Pfingstgemeinden und evangelischen Kirchen vertreten. Russisch-Orthodoxe waren nicht zu erkennen.

Moskauer Pastoren treffen sich einmal pro Monat

Als die Kommunisten in den 1920er und 1930er Jahren die Macht übernahmen, fassten sie die Freikirchen unter einem Dach zusammen. Sie hofften dadurch, dass die Christen sich wegen einiger unterschiedlicher Glaubensgrundsätze gegenseitig zerfleischen würden. Das Gegenteil war jedoch der Fall - und so sind heute vielleicht noch die Früchte daraus zu sehen. Für die Moskauer Region gibt es jedenfalls ein monatliches Pastorentreffen, zu dem Pastor Pavel alle Konferenzteilnehmer einlud.

Überhaupt scheint er ein Netzwerker zu sein. Er hatte es geschafft, so viele verschiedene Denominationen, Regionen und Ethnien nach Selenograd einzuladen und eine Atmosphäre der Gemeinschaft von Christen anzuregen. Hier können wir uns in Deutschland eine riesige Scheibe abschneiden.

Moskau Selenograd Baptisten Pastorenkonferenz
Pastorenkonferenz in der Selenograder Baptistengemeinde (Foto: Dave Schnitter)
Video à la Saddleback

Bei der ersten Live-Übertragung aus Amerika konnten wir nach dem Abendessen im Gemeindesaal dabei sein. Das Auditorium hörte gespannt zu, wie Tom Holladay seine Einleitung und einige Grußworte überbrachte. Er wurde live von der Bühne ins Russische übersetzt. Für Tom und Andrew aus Amerika, die eigentlich Hauptredner sein sollten, waren recht spontan zwei andere Pastoren namens Dave Holden und Dave Page, ebenfalls aus den USA angereist.

Es sollte um eine erneuerte Kirche und das Predigen mit Vision gehen. Dies ist Teil des Programms "Kirche mit Vision" der Saddleback Church aus Kalifornien. Nachdem in den 1990er Jahren das Buch "Leben mit Vision" von Rick Warren zu einem Weltbestseller in christlichen Kreisen geworden war, hat Pastor Rick weiter an Konzepten gearbeitet, wie einzelne Personen, Kirchen und Gemeinden und sogar ganze Länder von der Rückbesinnung auf Gottes Vision für uns Menschen verändert werden können. Dies ist alles unabhängig von nationalen Grenzen angelegt.

Handwerkszeug

In den nächsten Veranstaltungen im großen Saal ging es darum, als Gemeinde im Lobpreis, in Gemeinschaft, Jüngerschaft, Dienst und in der Weitergabe der Guten Nachricht zu wachsen. Insbesondere zum letzten Punkt gab es ganz konkrete Ideen und Anleitungen mit umfangreichem Material und vielen praktischen Beispielen der Redner. Alles wurde schließlich am Samstagmorgen zusammengefasst mit der Ermutigung für die Pastoren, ihre Gemeinden zu lieben.

Ich war beeindruckt von der Professionalität der Technik. Die Live-Übertragungen aus Kalifornien liefen ruckelfrei und waren gut zu verstehen. Das einzige, was zu der Zeit nicht funktionierte, war das W-LAN im Saal. Beeindruckt war ich auch von der guten Performance der beiden Übersetzer. Wobei überraschend viele Einheimische ihre Englischkenntnisse hervorholten, wenn wir uns mit ihnen unterhielten.

Moskau Selenograd Baptisten Pastorenkonferenz
Pastorenkonferenz in Selenograd - Casper, Martina, Ayanna (v.l.n.r. - Foto: Dave Schnitter)
Singen auf Russisch

Der Lobpreis - komplett auf Russisch - wurde zumeist von Andre aus Selenograd geleitet. Im Laufe der Konferenz zeigte sich, dass er zahlreiche Instrumente beherrschte. Bemerkenswert war außerdem die unterschiedliche Zusammensetzung des Teams bei gleichbleibend großer Begeisterung und Qualität. Manche Lieder kannten wir aus dem Englischen, andere waren völlig neu für uns. Alle Lieder wurden nur auf Russisch gesungen. Mein Vorteil war, dass ich alles mitsingen konnte, weil ich ja die russischen Texte vom Beamer lesen konnte. Die Lobpreiszeiten hätten für meinen Geschmack ruhig länger sein können.

Seminare über gesunden Gemeinde-Aufbau

Am Freitag und Samstag Nachmittag gab es je zwei Seminarblöcke, die entweder von den angereisten Amerikanern, von Dave Schnitter aus Berlin oder von Mitgliedern der Selenograder Gemeinde gehalten wurden. Es gab auch wieder Live-Übertragungen aus den USA. Inhalte waren der Aufbau von Gemeinden in Gegenden, in denen kaum noch jemand zur Kirche geht. Außerdem gab es Anregungen, wie man Nichtchristen mit dem Evangelium erreichen könnte. Oder auch Seminare darüber, wie man wertschätzend mit Mitarbeitern umgeht.

Ich entschied mich, mehr über die Gründungsgeschichte von Saddleback Berlin zu erfahren und ging zu Dave Schnitter. Da muss man erst nach Moskau reisen… Hätte ich bestimmt auch zu Hause erfragen können, bin aber nie auf die Idee gekommen.

Endlich putzen!

Schließlich konnten wir anderen drei nach etlichen Anläufen doch noch ein wenig helfen: Putzen. Dabei lernte Casper, wie man einen Staubsauger auf dem Rücken trägt. Ich lernte Olja kennen, die das komplette Gemeindehaus blitzblank hält. Mein Russisch war inzwischen auf 3-Wort-Sätze angewachsen. So konnten wir sogar eine Art Gespräch führen, denn Olja sprach gar kein Englisch.

Moskau Selenograd Baptisten Pastorenkonferenz
Putzen in Selenograd (Foto: Dave Schnitter)
Dann durfte ich sogar noch die Eingangstreppe sowie die Waschräume wischen. Wenn wir gerade nicht zur Stelle waren - also meistens - wird Olja bei solchen Veranstaltungen von den Jugendlichen aus der Baptistengemeinde unterstützt. Sie wienern das Haus, wenn alle Gäste die Lokalität verlassen haben und sorgen dafür, dass man sich am nächsten Morgen wohl und willkommen fühlt. Stolz erzählten einige junge Leute, dass sie im letzten Jahr sogar eine Urkunde für ihre Unterstützung erhalten hatten. Man merkte an dem Umgang miteinander, dass eine Atmosphäre der Wertschätzung und Anerkennung in diesem Haus nicht nur bloße Theorie ist, sondern gelebte Wirklichkeit.

Das ist wohl auch eins der Geheimnisse, warum Pastor Pavel Kolesnikov es geschafft hat, ein so junges, engagiertes Team zusammenzustellen, das wir am ersten Abend vorgestellt bekamen. Und bestimmt auch die Vision, eine gesunde, wachsende Kirche für sein Städtchen Selenograd zu etablieren.

Autorin: Martina Baumann (redaktionell bearbeitet von Matthias Baumann)

Freitag, 20. April 2018

Moskau Teil 3: Wanderung mit Karolina

Neben Kak, Da und Njet gibt es wohl nur noch ein Wort, das sich der per Pflicht-Unterricht gebildete Schüler aus dem Russischen gemerkt hat: Dostroprimeltschatjelnosti - Sehenswürdigkeiten. Der folgende Gastbeitrag meiner Frau Martina berichtet von einem Stadtrundgang mit Karolina.



Pünktlich um sieben trafen wir uns als Berliner mit zwei Amis und mit Karolina aus Selenograd. Karolina wollte uns Moskau zeigen. Auf das Frühstück hatten wir verzichtet, um den leeren Schnellzug in die City zu erwischen.

Der Zugverkehr zu den Vororten ist ähnlich wie in Paris organisiert. Es gibt Züge, die an drei Stationen halten und dann nur 35 Minuten brauchen. Und solche, die 50 Minuten unterwegs sind, weil sie jede Haltestelle ansteuern. Karolina hatte die richtigen Fahrkarten besorgt und kümmerte sich trotz ihres jugendlichen Alters auch im weiteren Tagesverlauf darum, dass wir die richtigen Züge und Metros benutzen konnten.

Moskau Metro
Moskau - Metrostation (Foto: Dave Schnitter)
Als wir in Moskau-Komsomolskaja ausstiegen, blitzte so langsam die Sonne durch die Wolken, auch wenn der Wind noch eisig war. Hier gibt es insgesamt drei Bahnhöfe, allesamt sehr imposante Gebäude. Komsomolkaja ist einer der berühmten U-Bahnhöfe aus den 1960er Jahren, mit Stuck und Kronleuchtern. Hier kreuzen sich zwei Metrolinien. Im Berufsverkehr waren wir offensichtlich die einzigen, die die Architektur dieses Bahnhofs bewundern, genießen und fotografieren wollten. Am Bahnhof Belarus passierten wir eine weitere sehenswerte Metrostation.

Endlich gab es Frühstück: Kaffee und Croissants. So gestärkt bejahten wir Karolinas Frage nach unserer Bereitschaft zu einem längeren Fußmarsch.

Moskau Roter Platz Basilius Kathedrale
Moskau - Roter Platz mit Basilius-Kathedrale (Foto: Martina Baumann)
Auf unserem Weg zum Roten Platz, dem wir uns in kleiner werdenden Umrundungen näherten, zeigte uns Karolina verschiedene versteckte Ecken. Gut, dass wir eine Einheimische dabei hatten. So sahen wir beispielsweise das Theaterviertel, in dem man rund ums Bolschoi-Theater in Cafés und Restaurants in einer Fußgängerzone draußen sitzen könnte. Ein richtiger Geheimtipp war das Kinderkaufhaus, das eine kostenlose Aussichtsterrasse mit wunderbarem Blick über den Roten Platz samt Kreml und große Teile Moskaus bietet.

Nach fünf Kilometern gelangten wir auf dem Roten Platz an. Er kam mir viel kleiner vor als im Fernsehen und ich wunderte mich, wie dort mit solcher Präzision Paraden abgehalten werden können. Natürlich mussten die obligatorischen Fotos vor der Basilius-Kathedrale geschossen werden. Die Kathedrale ist heute ein Museum, weshalb wir sie nur umrundeten. Der Wind war kalt und kräftig.

Moskau Christus Kirche
Moskau - orthodoxe Christus-Kirche (Foto: Martina Baumann)
Abschließend besuchten wir noch zwei Parks und die Russisch-Orthodoxe Christus-Kirche, in der zwei verschiedene Kirchenräume untergebracht sind. Nach 8 Stunden und 13 Kilometern Fußmarsch fuhren wir mit dem Schnellzug nach Selenograd zurück. Wir waren völlig fertig, hatten aber das Gefühl, alles Wichtige von Moskau gesehen zu haben.

Fazit 1: Moskau ist eine sehr schöne Stadt.
Fazit 2: Mit einer Einheimischen die Stadt zu erkunden ist sehr bereichernd.
Fazit 3: Die Einheimische sollte nicht sehr viel sportlicher sein als die Touristen.

Autorin: Martina Baumann (redaktionell bearbeitet von Matthias Baumann)