Geistlicher Missbrauch bezeichnet den Missbrauch der Vertrauensstellung in einer Leitungsposition und hat ähnlich nachhaltige Verletzungen zur Folge wie sonstige Formen des Missbrauchs. Dabei redet die Bibel oft und konkret über dieses Thema.
Die Mechanismen des geistlichen Missbrauchs werden hinreichend im Neuen Testament beschrieben, aber selten in Predigten thematisiert. Deshalb sind Gemeinden und deren Mitglieder recht unbedarft beim Umgang mit problematischen Leitern und lächeln milde vergebend, wenn sie von diesen missbraucht werden. Bileam aus dem vierten Buch Mose (4. Mose 22-25 und Off 2,14) würde heute geistlichen Missbrauch empfehlen, um Gemeinden und motivierte Mitarbeiter nachhaltig zu schädigen.
Bibel warnt oft vor geistlichem Missbrauch
Dabei lesen wir schon in Johannes ab dem sechsten Kapitel, in Markus ab dem dritten Kapitel oder in Matthäus ab dem zwanzigsten Kapitel von den absurden Fragen und Wortverdrehungen gegenüber Jesus. Auch in der Apostelgeschichte geht es munter weiter und zieht sich vom fünften Kapitel bis zum Ende. In Apg 20,29 kündigt Paulus den Ältesten aus Ephesus bereits an, dass "Wölfe" kommen werden, die die "Herde" nicht schonen.
In den letzten zwei Jahren hatten wir uns intensiv mit diesem Thema beschäftigt und waren erstaunt, wie ernst und oft das Neue Testament darüber redet. Die Zugriffszahlen auf das Stichwort
"geistlicher Missbrauch" in diesem Blog verraten uns, dass ein reges Interesse daran besteht.
Nachdem ich bei einem Bier für acht Dollar auf dem Dach des Hilton in New York mit einer Frau über geistlichen Missbrauch in Theorie und Praxis geredet hatte, freute sie sich, dass es endlich mal einen Gesprächspartner gab, der ihre Situation nachvollziehen konnte.
Geistlicher Missbrauch für Dummys
Der missbrauchende Leiter ist in der Regel eine unsichere Persönlichkeit, die oft gar nicht zum Leiten berufen oder befähigt ist und diesen Umstand durch eine besondere Art der Markierung seines Herrschaftsbereiches überspielen muss.
Damals wie heute kann sich solch eine Person sehr einfach etablieren: es reicht eine theologische Ausbildung und administrative Strukturen, die eine Kündigung des Amtsinhabers verhindern. Dann kann es losgehen.
Zuerst wird durch Verwässerung und begriffliche Umwidmung der biblischen Grundlagen die Beurteilungsfähigkeit und Mündigkeit der "Herde" reduziert. Pseudopietistische oder parabiblische Akzente werden gesetzt. Ein Minimum an Themen wird strapaziert und die Gemeinde wird mit rotierendem Aktionismus beschäftigt.
Wettbewerber werden in vertraulichen Einzelgesprächen zum Gehen motiviert oder mit unwahren Behauptungen öffentlich diffamiert. Wenn das nicht fruchtet, werden theologische Unterschiede oder geistliche Unreife konstruiert. Als letzte Möglichkeit steht noch die Okkultismusmasche analog Markus 3, 28-30 zur Verfügung.
Zerstörung von Familien
Da geistlicher Missbrauch von Personen ausgeht, die von Amts wegen Wahrheit und Vorbildwirkung gepachtet haben, können sie sehr lange ihren Handlungen nachgehen, ohne dass jemand an deren Kompetenz zweifelt.
Der Ausstieg einzelner Ehepartner kann dann sogar zu einem Bruch innerhalb der Familie führen. Es kommt dann vor, dass Tochter und Gattin freundlich zu Gemeindeaktivitäten eingeladen werden, während der Mann bereits ausgelistet ist. Wer die Mechanismen des geistlichen Missbrauchs nicht kennt oder die problematischen Leitungsperson bisher nicht hinterfragt hatte, wird sich bei solchen Situationen nichts weiter denken, zumal die offizielle Begründung oft schlüssig klingt.
Wir haben Menschen getroffen, die viele Jahre für ihren Heilungsprozess benötigt hatten oder sich völlig von der Gemeinde Jesu abgewandt haben. Deshalb ist es ermutigend, wenn wir von Betroffenen hören, dass sie sich auf unseren Rat hin sofort in anderen Gemeinden nach neuer Nahrung und christlicher Gemeinschaft umsehen.
Die hybriden Angriffsszenarien des geistlichen Missbrauchs werfen vorwiegend motivierte Mitarbeiter oder begabte Leiter aus der Bahn. Mitarbeiter mit Berufung haben normalerweise kein Interesse daran, dem Glauben den Rücken zu kehren und suchen erst einmal nach Hilfe.
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Heilung erfahren nach geistlichem Missbrauch - Ken Blue |
1. Schritt: Missbrauch beim Namen nennen
Die diffusen Erscheinungsformen des geistlichen Missbrauchs sind für die Betroffenen oft nicht klar einzuordnen und entsprechend zu benennen. Das ist jedoch eine wichtige Voraussetzung zum gezielten Angehen des Heilungsprozesses.
So kann es als Gnade gewertet werden, wenn einem die passenden
Checklisten über den Weg laufen. Wenn ein Großteil der Punkte mit der Referenzsituation übereinstimmt, kann das Problem klar benannt werden und eine fokussierte Recherche nach Hilfe wird möglich.
Erste Anlaufstelle wäre nach der gängigen Logik die nächst höhere Instanz. Leider stehen sich Kollegen recht nahe und das Problem wird lieber unter den Teppich gekehrt. Dabei spielt das Wohl der Gemeinde eine untergeordnete Rolle. Es war bemerkenswert, dass uns ausgerechnet ein Pastor darauf hinwies, niemals einen Pastor als Mediator in einen Gemeindekonflikt einzubeziehen.
Inwieweit die
Clearingstelle der Evangelischen Allianz in der Praxis etwas erreicht, wäre zu prüfen.
Nur echte Freunde werden sich ernsthaft für das Problem interessieren und nach Lösungen suchen. Bei allem Mitteilungsbedarf sollte beachtet werden, dass es oft nur um Sensationslust der Zuhörer geht.
Im schlimmsten Fall ist sogar davon auszugehen, dass niemand etwas vom Geschehenen wissen möchte und der Betroffene erst einmal völlig auf sich selbst gestellt ist. In den Büchern zu geistlichem Missbrauch ist deshalb auch mehrfach vom suizidalen Ausweg zu lesen.
2. Schritt: Heilungsprozess
Nach der Benennung ist die Konsultation von Seelsorgern, das Lesen von Fachbüchern, das Lesen der Bibel, das Gebet, eine Gemeinschaft authentischer Christen und das Finden anderer Heilungswilliger wichtig. Letzteres fördert den Gesundungsfortschritt, ist aber selten gegeben, da die relevanten "Schäfchen" normalerweise segmentiert und einzeln neutralisiert werden.
Ken Blue über Matthäus 23
Neben bereits vorgestellten
Büchern ist
"Heilung erfahren nach geistlichem Missbrauch" von Ken Blue sehr hilfreich für Christen, die ihr durch den Missbrauch irritiertes Bild von Gemeinde und Leiterschaft biblisch fundiert reparieren lassen möchten.
Ken Blue greift das oben erwähnte Matthäus-Evangelium auf und beschreibt anhand des Kapitels 23 die Facetten des geistlichen Missbrauchs. Zwei Drittel des Buches beschäftigen sich beispielsweise mit dem "Stuhl Moses", den "getünchten Gräbern", den "Heuchlern" (griechisch, Latein und hebräisch decken sich beim Begriff des Schauspielers) und dem Verhalten von Jesus.
Das letzte Drittel des Buches geht auf den konkreten Heilungsprozess und eine "Gemeindezucht" im neutestamentlichen Sinne ein.
Wer das Problem also beim Namen nennen kann und biblisch aufarbeiten möchte, sollte dieses Buch mit seinen 170 Seiten lesen. Kurz vor dem Ende wird wieder eine der Checklisten dargestellt, die sich weitestgehend mit der oben verlinkten Checkliste und der Checkliste aus
"Menschen mit Format" (Seiten 199/200) deckt.
Heilung braucht Zeit
Ken Blue vergleicht die Verletzung durch den Missbrauch mit dem Überrollen durch einen Bus. Ähnlich lange solle man sich Zeit für die Heilung nehmen. Auch auf die wohlwollenden Angebote guter Freunde zu neuen Diensten in einem anderen Kontext solle man vorerst verzichten.
Dieser Moment ist jedoch gefährlich. Wir haben Christen erlebt, die erst einmal Siesta machen wollten und sich dadurch so weit von der "Gemeinschaft der Heiligen" entfernt hatten, dass ein Wiedereinstieg auch nach vielen Jahren nicht mehr realistisch war.
Umgang mit dem System
Anhand der zum Thema gelesenen Bücher und der Erfahrung von Betroffenen gibt es im Wesentlichen drei Optionen, mit dem Missbrauchssystem umzugehen:
1) mitmachen
2) zerstören
3) gehen
Die erste Option kommt nur in Frage, wenn die Persönlichkeit des Betroffenen schon völlig demontiert ist oder physische Barrieren den Weg versperren. Ansonsten baut sich ein so starker innerer Gewissenskonflikt auf, dass zu einer der beiden weiteren Optionen übergegangen werden muss.
Die zweite Option hatte bei der
Colonia Dignidad sehr gut funktioniert, da die dritte Möglichkeit topografisch verwehrt war und die erste Variante mit physischer Gewalt durchgesetzt wurde. Die Überführung des Hauptverantwortlichen Paul Schäfer erfolgte nach mehrmonatigem Gebet.
Ken Blue empfiehlt die dritte Option, und zwar als familiäre Einheit. Denn es ist davon auszugehen, dass auch der Rest der Familie mit dem System kollidiert.
Von daher wäre für mitteleuropäische Verhältnisse ein Mix aus Gehen (Option 3) und nachgelagertem Beten (Option 2) denkbar. "Aktive Sterbehilfe" sei laut Ken Blue ein Liebesdienst an der pathologischen Gruppe. Immerhin dient das der Schadensbegrenzung.