"Es war alles noch viel schlimmer", äußerten sich unisono mehrere der ehemaligen Mitglieder der Colonia Dignidad nach der Filmpräsentation im Auswärtigen Amt.
"Meine Frau hätte den Film nicht ertragen", erzählte mir der Vater von fünf Töchtern, der sich in der Szene wiedererkannte, in der Hans nach der Genesung von der Folter sabbernd in die Werkstatt gebracht wurde. Solche Szenen konnten Jungs in der Colonia Dignidad im Süden Chiles Monate lang durchleben, wenn sie sich den pädophilen Fummeleien des Sektenchefs Paul Schäfer widersetzten. In weit über 30.000 Fällen habe man sich auf diese Weise vergriffen und massiven seelischen Schaden angerichtet.
Dusche gesprengt
Deshalb habe eines der Opfer anschließend auch die berüchtigte Dusche weggesprengt. Das sei aber nicht der einzige Ausbruch befreienden Vandalismus gewesen. Jemand habe das Metallrelief mit der Frau und den beiden Adoptivkindern im Arm von der Außenwand des Haupthauses gerissen, demoliert und in den Wald geworfen. Auf der Rückseite steht wie zum Hohn auf Griechisch: "Lasset die Kindlein zu mir kommen".
Diskussionspanel mit Regisseur, zwei Betroffenen, Moderatorin, Amnesty International und Diplomatie (vlnr.) |
Pillen gegen ein klares Denken
Eine Panelteilnehmerin, die selbst noch in Chile wohnt und durch ihre Familie weiterhin Kontakte zur Kolonie unterhält, bestätigte ebenfalls, dass der Film durchaus die Härte der psychischen und physischen Unterdrückung treffe und ergänzt: "Es war noch schlimmer". Sie habe den Film nun zum dritten Mal gesehen und durchleide immer wieder die alten Geschehnisse. Ein Betroffener erzählte mir bei Wein und Häppchen, dass er mal so eine Pille probiert habe. Er sei dann für mehrere Stunden völlig im Delirium gewesen.
130 Senioren
Zur Zeit leben noch etwa 130 Personen in der Colonia Dignidad, von denen 2/3 über sechzig Jahre alt sind. Rentenansprüche gebe es kaum. Die Menschen waren bis 2005 als unentgeltliche Zwangsarbeiter mit einer Arbeitswoche von sieben Tagen beschäftigt worden. Erst 2005 gab es das erste Gehalt, womit simple Dinge wie Kaffee, Kaffeekannen, Fernseher und Mobiltelefone angeschafft werden konnten. Das stand vorher nicht zur Verfügung. Lehrbücher waren aus den 1950er Jahren und auch sonst sei jegliche Informationsmöglichkeit unterbunden oder zensiert worden.
Vollbeschäftigung und Zwangsbeglückung
Überbeschäftigung, permanenter Druck, Bespitzelung, Trennung der Familienstrukturen, Gruppenzwang wurden so exzessiv betrieben, dass sich weder einheitlicher Widerstand formieren konnte noch Zeit zum Nachdenken blieb. Und wenn doch jemand nachdachte, gab es noch die Pillen. Wie in Systemen geistlichen Machtmissbrauchs üblich hatte man für "Abtrünnige" jede Menge Verwünschungen parat und stellte Aussteiger auf externe Nachfrage als psychisch krank dar.
Was Paul Schäfer sagte, war Gesetz. Die Bibel auf Schäfers Tisch diente nur noch als Zitatsammlung zur Versklavung seiner Gemeinde und ging in dieser Eigenschaft mit Exodus 20 Vers 7 konform. Dabei waren die Mitglieder der Colonia einst aus gutem Glauben nach Chile gekommen und hatten sich zumeist freiwillig in dieses System integriert. Wie konnte das dann nur so kippen? War es die Abgeschiedenheit? War es die allgemeine Angst während des Kalten Krieges? War es eine schleichende Allmacht-Übernahme durch ihren als begnadeten Prediger angesehenen Prius? Ein Mann, der mit Brutalität und zwanghafter Kontrolle seine Defizite in natürlicher Leitungskompetenz überspielte.
Nachhaltige Gehirnwäsche
Viele der noch heute bewusst in der Colonia Dignidad lebenden Menschen wurden über die Jahre so entmündigt, dass sie sich gar nicht in der Lage sehen, einen Neustart außerhalb dieses zerstörerischen Systems zu wagen. Sie sehen das Areal als ihre Heimat und haben keine Kraft mehr, sich einer Außenwelt mit ihren neuen Herausforderungen zu stellen.
Einer der ersten Aussteiger, dem bereits 1966 die Flucht gelungen war, sagte: "Schäfer war im Bösen ein Profi". Der angerichtete Schaden könne nur durch einen anderen Profi geheilt werden. Jesus? Jedenfalls wurde dieser Wunsch nach Unterstützung auch von weiteren Diskutanten auf dem Podium geteilt. Es sei dringende Hilfe durch Psychologen und Psychiater notwendig.
Beim anschließenden Empfang traf ich Menschen, die ausgestiegen waren und beispielsweise in Baptistengemeinden ein neues zu Hause gefunden hatten. Sie strahlten Freundlichkeit und Gelassenheit aus. Auf meine Frage nach den theologischen Grundlagen der Colonia Dignidad und was man dort bezüglich der zwanghaften Zustände aus der Bibel herausgelesen habe, erfuhr ich ein sehr interessantes Detail:
Eine Gruppe junger Leute hatte viele Monate lang gebetet und gebet und gebetet.
Dann stand der sichtlich demontierte Paul Schäfer vor einem der Jungen und wetterte gegen die "Mafia" - das organisierte Gebet. Drei Tage später setzte sich Schäfer nach Argentinien ab.
Obwohl es vorbei ist, sind immer noch tiefe Wunden vorhanden. Durch auslösende Momente (Trigger) wie den Film "Colonia Dignidad" werden diese wertvollen Menschen auch heute noch mental aus der Bahn geworfen.
Ergänzende Links:
Videobericht auf 3sat.online
Selbstkritische Rede Steinmeiers zu Rolle und Versäumnissen der deutschen Diplomatie