Die Saddleback Church ist eine wachsende evangelische Gemeinde in Mitte. Eine Predigt per Video ist ihr Alleinstellungsmerkmal. Gottesdienst und Predigt laufen auf Englisch und werden simultan übersetzt. Inhaltlich bieten die Predigten einen guten Alltagsbezug und sind wegen ihrer thematischen Nachhaltigkeit empfehlenswert. Die Zielgruppe sind Singles, junge Familien, Touristen, Studenten oder Berufs bedingte Wahlberliner, die sich über das sprachliche Entgegenkommen freuen. Der Gottesdienst eignet sich wegen der Professionalität und offenen Atmosphäre zum Mitbringen von Kollegen und Bekannten.
"Dann können wir ja zur Schönen Party gehen und gleich dort bleiben", freute sich meine Frau als sie die Location unseres nächsten Gottesdienstbesuches erfuhr. "11:00, Kalkscheune", hatte unsere Tochter in ihren WhatsApp-Chat getickert.
Ob wir noch die letzten Nachtschwärmer und Überreste der Schönen Party sehen werden? "Nein, die Leute sind so alt wie wir und halten nur von zweiundzwanzig bis zwei Uhr durch", zügelte sie die Dramatik meiner Vorstellungskraft. Wie wird es wohl mit der Parkplatzsituation aussehen?
Letztere war traumhaft. Hinter dem Friedrichstadtpalast waren unzählige Parkplätze frei. Es gab Parkraumbewirtschaftung zu zwei Euro pro Stunde und von der Schönen Party zeugten lediglich die Hinweisschilder an der Kalkscheune. Besucher von Saddleback wurden durch mehrere Schilder in die oberste Etage des Hauses geleitet. Ein interessantes Gebäude mit niedriger Zugangsschwelle.
Die Saddleback Church hatten wir bereits vor zweieinhalb Jahren besucht, als sie kurz nach der Gründung des Berlin-Zweiges in der Nähe des Potsdamer Platzes ihre Gottesdienste durchführte. Die Predigtreihe war damals so interessant, dass ich mit meinem Sohn noch ein weiteres Mal dort war.
Die Zielgruppe sind offensichtlich Touristen, Studenten, internationale Professionals und Deutsche mit erweiterten Englischkenntnissen. Wir hätten per Kopfhörer zwar eine Simultanübersetzung bekommen können, verzichteten aber darauf. Nach einer freundlichen aber nicht aufdringlichen Begrüßung kamen wir zunächst an einer Kaffeetheke vorbei. Es war noch recht leer im Saal. Der Saal erinnerte an einen der Nebenräume in der Time Square Church am Broadway. Videoscreens rechts und links neben der Bühne und fünf bis sechs Sitzreihen mit Blick auf die Längsseite des Raumes.
Die besondere Form der Sitzflächen führte dazu, dass mein abgestellter Kaffeebecher mit der liebevollen Aufschrift "Johannes 15, 5" langsam nach vorne rutschte, in Zeitlupe abkippte und den Saddleback-Saal großflächig in das Duftkonzept "Kaffee" tauchte. Es war inzwischen gar nicht mehr so einfach, zur Theke zu gelangen und einen Lappen zu bekommen. Der Saal hatte sich kurz nach Elf merklich mit Kaffee trinkenden Besuchern gefüllt. Ich beseitigte die farblich harmonierende Fußbodenveredelung, während die Familie die Gelegenheit nutzte und eine Bankreihe nach hinten umzog. Der Countdown lief. Akademisches Viertel.
Dann begann die Band zu spielen und Pastor David Schnitter leitete den Gottesdienst mit Grüßen und Ansagen ein. Alles auf Englisch. Das ist aber für den deutschen Gottesdienstbesucher noch recht harmlos. Der gewöhnungsbedürftige Teil kam nach der Anbetungszeit:
Public Viewing ohne Fußball.
Das Alleinstellungsmerkmal - Neudeutsch auch USP oder Unique Selling Proposition genannt - ist eine Predigt per Videoübertragung. Ich hatte mich bisher immer gefragt, wozu dann noch ein regionaler Pastor und der Aufwand einer Gemeindeorga notwendig sind. Heute erlebte ich die Antwort. Das einzige Video-Element ist die Predigt. Wenn man die Predigt als einen wichtigen Teil, aber nicht den einzig entscheidenden Teil von Gemeinde ansieht, lässt sich bei Saddleback erkennen, dass nachhaltige Professionalität in sämtlichen Bereichen wie Lobpreis, Kleingruppen, Kindergottesdienst, Evangelisation, sozialem Engagement usw. eine Gemeinde durchaus wachsen lassen kann. In den letzten zwei Jahren muss die Gemeinde offensichtlich um das Vierfache gewachsen sein.
In der heutigen Predigt ging es um Vergebung. Ausgangstext war Matthäus 6 Vers 12 aus dem Vaterunser. Anhand diverser weiterer Bibelstellen wurden die Facetten der Vergebung skizziert. Mein Sohn stieß mich an, ich solle auch mitschreiben und das Begleitblatt zur Predigt ausfüllen. Ab und zu notierte ich Zitate und festigte meine Ansichten zum Thema. Gut, wenn man das noch einmal so klar formuliert bekommt und weitere Zusammenhänge entdecken darf. Wir waren sehr berührt und nahmen gute Impulse auf, über die wir anschließend weiter redeten, wie beispielsweise, dass Vergeben nicht unbedingt etwas mit Vergessen zu tun hat und dass man nicht vergessen solle, dass einem vergeben wurde oder man selbst bereits vergeben habe. Ein wichtiger Fokus lag auf dem Vergeben im Sinne des Abgebens an Gott.
Die Beschriftung des Bechers meiner Frau musste etwas mehr Zeit in Anspruch genommen haben. Dort war zu lesen, dass Gott in diesem Jahr noch etwas Besonderes für sie geplant habe. Seltsam, dass bei den Ansagen, auf meinem Notizzettel und später auch in der Predigt das Wort "Ruanda" vorkam. Hatten wir doch am letzten Sonntag bereits etwas über Ruanda gehört. Nun klang die zarte Saite wie ein unüberhörbarer Gong. Wir füllten die Kontaktkarte aus und sind gespannt, wie es mit Saddleback, Ruanda und uns weitergeht.
"Das war cool! Hier können wir öfter hingehen", sagte unsere Tochter bei der Abfahrt. Solch ein deutliches Teenager-Statement gab es in den letzten zehn Monaten nur einmal: Heute.