Samstag, 7. Januar 2017

Avner Less und die respektvolle Distanz

Die Bibel erzählt viele Begebenheiten, die als Referenzen auf unsere Alltagssituationen anwendbar sind. Anhand diesen lässt sich unser Handeln nachjustieren oder die Folgen von Fehlentscheidungen abschätzen.



Biblische Personen wie Abraham, David, Elia, Adam, Paulus, Johannes, Daniel oder Noah zeigen, wie bestimmte Dinge angegangen oder bewertet werden können und was besser vermieden werden sollte. Jesus bietet ein Vorbild, an dem wir uns orientieren können.

Jesus als Vorbild

Dem souveränen und respektvollen Umgang Jesu mit problematischen Zeitgenossen, wie es in Matthäus ab Kapitel 20 beschrieben wird, möchte ich mich gerne annähern. Umso beeindruckender ist es, wenn Menschen wie du und ich darin ebenfalls zum Vorbild werden und trotz direkter Betroffenheit eine gesunde innere Distanz wahren können.

Beim Lesen eines Buches über die Entlarvung von Gesprächspartnern, die es mit der Wahrheit nicht so genau nehmen, tauchte immer wieder der Name Avner Less auf. Avner Less hatte insgesamt 275 Stunden lang den bekannten Schreibtischtäter Adolf Eichmann verhört.

Abstand und Nähe

Polizisten sind in der Regel nicht direkt betroffen von den straftatbewährten Handlungen ihres Gegenübers. Deshalb können sie einen gewissen Abstand wahren. Avner Less hatte während des Nationalsozialismus seine deutsche Wahlheimat verlassen und war nach Frankreich gegangen. Dort hatte er seine Frau kennen gelernt und war später mit ihr nach Amerika umgezogen. Ein Teil seiner Familie war in Berlin geblieben und wurde kurz vor Kriegsende mit einem der letzten Transporte in die Vernichtungslager gebracht. Der Mann, der maßgeblich für die Organisation dieser Transporte zuständig war, saß ihm seit dem 29.05.1960 für mehrere Monate gegenüber.

Avner Less - Lüge! Alles Lüge!
Avner Less - Lüge! Alles Lüge!
Avner Less war zwei Jahre zuvor von Amerika nach Israel umgezogen und hatte dort bei der Polizei angefangen. Der von Israel gesuchte Adolf Eichmann war in Argentinien untergetaucht und ging dort einer normalen Berufstätigkeit nach. Auf abenteuerliche Weise wurde er dort entführt und nach Israel gebracht. Das Buch "Lüge! Alles Lüge" beschreibt in Tagebuchform die gesetzeskonformen Amtsvorgänge inklusive der ständigen Haftverlängerungen.

Respektvoller Umgang

Polizeihauptmann Less wurde für die Zeit des Verhörs direkt ins Gefängnis versetzt, so dass er nur schriftlich mit seiner Familie kommunizieren konnte. Eichmann war der einzige Häftling vor Ort. Mit Respekt (Lateinisch: respicere - Rücksicht nehmen) näherte er sich Eichmann an, sprach mit ihm wie mit einem Kollegen oder Nachbarn und bot ihm sogar eine Zigaretten an, wenn er selbst rauchen wollte.

Mit dieser Art des Umgangs kamen die Kollegen des Verhörführers gar nicht klar. Auch die israelische Presse beschimpfte Avner Less. Zu viele Israelis hatten Angehörige und Freunde durch den industriellen Genozid verloren, als dass sie noch für einen Prozess nach rechtsstaatlichen Grundlagen offen gewesen wären.

Spannungsfelder

So befand sich Avner Less gleich in mehreren Spannungsfeldern: der Verachtung der Kollegen, dem verständlichen Zorn der israelischen Bevölkerung inklusive der Presse sowie dem inneren Druck, den Hauptverantwortlichen für den Tod eines Teils seiner Familie vor sich sitzen zu haben. Dennoch blieb er sachlich und behandelte den Vorgang so professionell, dass Adolf Eichmann anschließend anhand der Protokolle, die er selbst gegenzeichnete, zum Tode verurteilt werden konnte. Die Vollstreckung erfolgte, als Avner Less gar nicht mehr in Israel wohnte. Er war wieder nach Europa gegangen.

Avner Less beeindruckt!

Schon beim Kauf des Buches war ich gespannt, woraus er denn diese Stärke und Selbstbeherrschung ziehe. Diese Frage wird auf den etwas über 300 Seiten nur zwischen den Zeilen beantwortet.

  1. Bewusste Entscheidung, nicht zu hassen und damit Durchbrechen der Opfer-Täter-Symbiose
  2. starke und innige Beziehung zu seiner Frau
  3. die unspektakuläre Otto-Normal-Persönlichkeit Eichmanns

Gerade letzterer Punkt hatte viele der Beamten irritiert, da sie Eichmann eine Aura des Schreckens angedichtet hatten und bei der persönlichen Begegnung einen ganz normalen Mann, eine absolute Durchschnittspersönlichkeit, antrafen.

Das Buch wechselt zwischen Tagebuchaufzeichnungen, Interviews, Gedichten und Briefen und liest sich wie eine Doku im Ersten.