Mittwoch, 18. Oktober 2017

Toxic Leadership - Was ist das?

Das Thema Leitung steht zurzeit gar nicht auf meiner Agenda. Dennoch komme ich regelmäßig damit in Berührung. Am letzten Donnerstag hörte ich erstmals den Begriff "toxic leadership".



Ein Freund aus dem Süden Berlins umgibt sich gerne mit Führungskräften. Per WhatsApp teilt er mir deren Herausforderungen mit, so dass wir konzertiert beten können. Er redet auch davon, welche Führungskräfte er anleite, unterstütze, welche er unter sich und über sich habe und dass er selbst eine Führungskraft sei. Seine Tochter besucht eine Leadership-Kleingruppe, die sich zu nachtschlafender Zeit in einem City-Starbucks trifft. Schon die Uhrzeit des Meetings lässt bei mir jegliche Lust auf Leitungsfigur vergehen.

Mit der Führungsstelle ist es wohl so wie mit der Partnersuche. Wer mit Krampf leiten möchte, muss sich erst einmal durch- und hochkämpfen. Wer das Thema entspannt angeht, dem werden die Leitungspositionen hinterhergetragen, vorausgesetzt es handelt sich um eine als Leiter begabte Führungskraft: Führung durch Persönlichkeit.

Toxic Leadership - vergiftende Leitung

Am Rande des dritten Workshops zum Traditionserlass wurde ich letzten Donnerstag schon wieder in ein Gespräch über Leitung verwickelt. Ein Oberst erzählte mir, dass er gerade einen längeren Aufsatz über "toxic leadership" schreibe. Den Begriff kannte ich noch gar nicht. Seine Augen leuchteten, als er die Details zu den Verhaltensmustern dieser Personen erläuterte. Es folgten konkrete Beispiele.

"Das kann man ja auf sämtliche Lebensbereiche wie Unternehmen und Vereine übertragen", bemerkte ich und hatte sofort die bunte Palette des geistlichen Missbrauchs vor Augen. Toxic Leadership sei ein Begriff, der in der U.S. Army aufgekommen sei. "Vergiftende Leitung", warf ich die Übersetzung ein. Man habe festgestellt, dass es Leitungspersonen gebe, die in ihrer Wirkungszeit mehr Schaden als Nutzen anrichten und im Kontext der Army durchaus für den Tod von Soldaten verantwortlich zeichnen. Er wolle mir den Aufsatz zukommen lassen, sobald er fertig sei.

Aber ich kenne mehrere!

"Wie geht man denn mit toxischen Leitern um? Wie wird man die wieder los?", wollte ich wissen. "Damit beschäftigt sich der nächste Aufsatz", lächelte er mich an und wir widmeten uns einem Buch, das er gerade auf Latein gelesen hatte: "Laus stultitiae" - "Lob der Torheit" - Erasmus von Rotterdam.

Auf der Heimfahrt schwirrten die toxischen Leiter durch meine Gedanken. Deshalb fragte ich anschließend einige kompetente Bekannte, ob sie den Begriff schon einmal gehört hätten. Alle verneinten. Sie baten mich um weitere Recherchen und die Übermittlung der Ergebnisse. Einer von ihnen schrieb: "Nein, habe ich noch nicht gehört. Aber ich kenne mehrere!"

20% und eine Spur der Verwüstung

Die Recherchen bestätigten die Infos des Offiziers. Die US-Armee sei mit etwa 20% toxischer Leiter durchzogen. Das ist ein hoher Prozentsatz.

Bezüglich der Selbstmorde während des Irak-Krieges wurden die bislang üblichen Untersuchungen modifiziert. War bisher immer der psychologische oder familiäre Mikrokosmos des Suizid-Opfers ausgewertet worden, richtete sich der neue Fokus auf das militärische Umfeld und die Vorgesetzten. Dabei trat zu Tage, dass problematische Leiter - zumeist mit Selbstwert-Defiziten - durch Schikanen und Intrigen eine destruktive Arbeitssituation geschaffen hatten. In letzter Konsequenz wurde damit der eigene Kampfauftrag beeinträchtigt und eben auch diverse Leben in den eigenen Reihen zerstört.

Je mehr das Thema an die Öffentlichkeit kam, umso mehr Betroffene meldeten sich mit ihren Erfahrungsberichten. Der toxische Vorgesetzte war wohl das fehlende Puzzle-Teil in der Bewertungskette zerstörerischer Situationen. Toxische Leiter betreiben ganz klar Sabotage.

Definition toxischer Leiter aus ADP 6-22

Die U.S. Army sieht toxische Leiter deshalb als ein ernst zu nehmendes Problem an. Die Army Doctrine Publication No. 6-22 definiert auf Seite 11 diese spezielle Art der Leiter. Hier eine freie Übersetzung:

 
"Gelegentlich kommt es in einer Organisation zu einer negativen Führung. Negative Leiter verlassen im Allgemeinen Menschen und Organisationen in einem schlechteren Zustand als bei Beginn der Leiter-Mitarbeiter-Beziehung. Eine Form der negativen Führung ist die toxische Führung.

Toxische Führung ist eine Kombination aus egozentrischen Einstellungen, Motivationen und Verhaltensweisen, die negative Auswirkungen auf Untergebene, die Organisation und die Mission haben. Diese Führer tragen keine Sorge um andere und das Klima der Organisation, was kurz- und langfristige negative Auswirkungen hat.

Toxische Führer arbeiten mit einem aufgeblasenen Sinn für Selbstwert und aus akutem Eigeninteresse. Toxische Leiter verwenden konsequent disfunktionales Verhalten, um andere zu täuschen. Sie schüchtern ein, üben Zwang aus oder verwenden ein ungerechtes Strafmaß, um ihren Willen durchzusetzen.

...
Der längere Einsatz negativer Führungskräfte zur Beeinflussung von Mitarbeitern untergräbt den Willen, die Initiative und das Potenzial der Geleiteten. Zudem zerstört es die Einheit des Teams."

Das kommt mir bekannt vor.

Toxische Personen sind in sämtlichen Lebensbereichen mit Leiter-Mitarbeiter-Strukturen anzutreffen. Auch in Gemeinden.

Die einschlägige Literatur zu geistlichem Missbrauch kennt den physischen Suizid genauso wie den geistlichen Tod. In Berlin begegnen uns immer wieder Betroffene mit einer tiefen Verbitterung über toxische Gemeinde-Strukturen. Während meiner gerade beendeten Reha erzählte mir ein Mann, dass er ausgetreten sei und Abstand genommen habe. "Abstand nur von der Kirche oder auch von Gott?", wollte ich wissen. "Von beidem", war die Antwort.

Wir kennen eine Gemeinde, die gleich von zwei toxischen Leitern geführt wird. Einer davon stolpert über den Fallstrick Perfektion und der andere über den Fallstrick Eitelkeit. Einer davon ist Theoretiker und einer Praktiker. Beide heften sich Lorbeeren an, die sie selbst nicht erarbeitet haben. Damit passen sie sich eins zu eins in die Schablone ein, die der Oberst am Stehtisch in Potsdam skizziert hatte.

Uns wundert, dass sich niemand wundert.

70 Personen sollen inzwischen die Gemeinde verlassen haben. Das ist etwa die doppelte Zahl der Gottesdienst-Besucher. Dennoch wundert sich bisher wohl niemand oder hinterfragt gar die Zustände.

Der untergebene Leiter in diesem Gespann bekam den Titel "Kapitän", wobei der Begriff sachlich falsch ist. Mir klingt noch ein Satz von Konteradmiral Stawitzki im Ohr: "Wir machen heute das, was Seeleute immer machen: Positionsbestimmung". Die Positionsbestimmung toxischer Leiter kann sich nur um die eigene Person drehen, nicht jedoch um die realistische Position der zu erfüllenden Mission. So ist der Kapitän in diesem Zusammenhang wohl eher als jemand zu verstehen, der als Letzter das Schiff verlässt - nachdem er allen anderen noch auf hoher See über Bord geholfen hatte.

Die tun was dagegen.

Wegen der gravierenden Folgen toxischer Leitung hat die amerikanische Armee Exempel statuiert und eine vierstellige Zahl auffällig gewordener Offiziere entlassen. Auch wurde ein anonymes System zur Bewertung von Vorgesetzten eingeführt, das beim Aufspüren solcher Tendenzen hilft.

In der christlichen Szene hört man selten von vergleichbaren Verfahrensweisen. So bin ich inzwischen der Überzeugung, dass ein gemeindliches Umfeld den optimalen Schutzraum für toxische Leitungspraktiken bietet.

Die Erfahrung zeigt, dass die Kollegialität unter Pastoren bemerkenswert hoch ist. Aus Bruderliebe werden toxische Verhaltensweisen unter den Teppich gekehrt, bis dieser so viele Ausbuchtungen hat, dass er nicht mehr begehbar ist. Die Bibel berichtet davon, dass sich Gott selbst zu gegebener Zeit dieses Themas annehmen wird - siehe zum Beispiel 1. Samuel 3 und 4.


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