Montag, 28. November 2016

Chasing Daylight - die letzten 100 Tage

Da wir uns in den letzten vierzehn Monaten von beiden Vätern alias Großvätern verabschieden mussten, spricht "Chasing Daylight" von Eugene O'Kelly genau in unsere familiäre Situation. Viele Passagen sind emotional nachvollziehbar und ich bin beeindruckt, wie rational der Top-Manager O'Kelly mit seinem ungeahnt plötzlich diagnostizierten Ableben umgeht.



Wohl dem, der das Privileg hat, sich auf den Tod vorbereiten zu können. Mein Vater wurde im Sommer 2014 sehr plötzlich mit einer angehenden Blutvergiftung im Bereich der Nieren ins Krankenhaus eingeliefert. Die sofort eingeleitete Operation war die ultimative Hilfe, die ihm noch ein weiteres Lebensjahr ermöglichte. Er erlebte seine Goldene Hochzeit, ein Weihnachtsfest, seinen 75. Geburtstag und sogar noch den einundfünfzigsten Hochzeitstag.

Geklärte Beziehung und Abschied

Die Einlieferung im Sommer 2014 war für mich ein Alarmsignal, noch alle offenen Dinge mit ihm zu klären. Ich schrieb ihm einen längeren Brief. Das war sehr gut so! Er war davon so bewegt, dass wir anschließend gemeinsam beteten und noch ein intensives Jahr der Vater-Sohn-Beziehung leben konnten. Wir telefonierten regelmäßig, lasen uns Bibeltexte vor und beteten gemeinsam. Die Zeit, die uns noch blieb, nutzen wir als bewusste Abschiedszeit und erlebten eine Tiefe in der Beziehung, die es in den vorangegangenen Jahren kaum gegeben hatte. Er schlief im August 2015 in Frieden ein und auch die Beerdigung wurde zu einem positiven Erlebnis.

Einfach tot umfallen

Im Januar 2015 saßen wir mit den Eltern meiner Frau in Costa Calma (Fuerteventura) auf der Terrasse unseres Hotelzimmers und füllten die Patientenverfügungen aus. Bei Zigarre, Chips und Kerzenschein kreuzte mein Schwiegervater die Fragen zur maschinellen Lebenserhaltung an und schrieb darunter, dass er am liebsten einfach "tot umfallen" wolle. Das geschah im Oktober diesen Jahres in seinem Bad. Nach einer intensiven Wiederbelebung wurde er ins künstliche Koma versetzt und an Beatmungsmaschinen gehängt. Es folgte eine Zeit des bewussten Abschieds. Bekommt er noch etwas mit? Hört er uns? Wir redeten mit ihm und beteten für ihn und bedankten uns für die gemeinsame Zeit.

Als ich gerade das Handy ausschalten wollte, um das Flugzeug nach New York zu besteigen, rief meine Frau an und sagte, dass ihr Vater am frühen Morgen verstorben sei. Später erfuhr ich, dass er lächelnd auf der Bahre lag.

Chasing Daylight Eugene O'Kelly
Chasing Daylight - Eugene und Corinne O'Kelly
Chasing Daylight von Eugene und Corinne O'Kelly

Das Buch "Chasing Daylight" (Jagd nach dem Tageslicht) beschreibt eine ähnliche Situation, nur dass der Autor wesentlich jünger war. Als CEO der Beratungsgesellschaft KPMG war Eugene O'Kelly es gewohnt, ständig in Flugzeugen, in Hotelzimmern, auf Golfplätzen und den Chefetagen der Welt unterwegs zu sein. Seine Arbeitswoche umfasste gerne siebzig bis neunzig Stunden.

Der Top-Manager aus New York war 53 Jahre alt, als seine Frau einen ungewohnten Schweißtropfen auf seiner Wange bemerkte. Nach einer aktiven Woche lässt sich solch ein Symptom auch als normale Stressreaktion bagatellisieren. Dennoch suchten sie einen Arzt auf. Mehrere Untersuchungen an aufeinander folgenden Tagen brachten die finale Klarheit über seinen Gesundheitszustand: drei Tumore in der Größe von Tennisbällen hatten sich in seiner linken Gehirnhälfte gebildet und waren ohne Schmerzen oder merkliche Beeinträchtigungen gewachsen. Der Zeitpunkt für einen sinnvollen Eingriff war bereits weit überschritten.

Lebenserwartung 100 Tage!

Der Top-Manager beschreibt seinen Umgang mit der Diagnose und die rationale Planung seiner letzten 100 Tage. Er traf zunächst die Entscheidung, die Situation zu akzeptieren und diese letzte Phase seines Lebens zur wichtigsten Phase werden zu lassen. Er stellte sich der Realität und fertigte eine Todo-Liste an, die sich im Wesentlichen mit der Übergabe seines Postens bei der KPMG, den Formalitäten für die Beisetzung und die Erbschaftsangelegenheiten und dem bewussten Loslassen seiner Beziehungen beschäftigte. Darüber hinaus wurden noch einige prinzipielle Verhaltensregeln aufgestellt. Hier die Liste:

+ ordne rechtliche und finanzielle Dinge
+ verabschiede dich (unwind relationships)
+ vereinfache alles
+ lebe im Jetzt
+ schaffe große oder perfekte Momente (oder sei offen dafür)
+ beginne den Übergang zum neuen Lebensstatus
+ plane das Begräbnis

Der Nachfolger war innerhalb von drei Tagen gefunden. Die sonstigen Formalitäten liefen eher nebenher und das "Entwinden" (unwinding) der Beziehungen in möglichst "besonderen Momenten" war Hauptfokus seiner Aufmerksamkeit. Dazu fertigte er ein Diagramm mit Kreisen an. Im innersten Kreis stand seine Familie, dann kamen angeheiratete Verwandte, engere Freunde und nähere Geschäftspartner. Im äußersten der Kreise standen die langjährigen Bekannten und Business-Kontakte. Er entschied sich für eine Abarbeitung von außen nach innen.

Abschied

Er schrieb die Menschen auf, mit denen er eine Zeit seines Lebens oder kurze intensive Momente verbracht hatte und kam letztlich auf 1.000 Namen. Einige schrieb er per Mail an, andere rief er an, wieder andere traf er persönlich. O'Kelly nahm diese letzten Stunden so intensiv auf, dass fast jede dieser letzten Begegnungen mit anschließendem "Good bye" zu einem "Perfect Moment" für ihn und auch die Gesprächspartner wurde. Der Abschied von dieser Personengruppe nahm drei Wochen in Anspruch, was bei einem Budget von 100 Tagen schon recht viel war.

Schwieriger wurde es mit den engeren Bezugspersonen zwischen äußerem und innerem Kreis. Einige genossen den Abschied in einem dieser perfekten Momente im Central Park, einem Restaurant oder am Telefon. Andere waren wütend über das Leben, das Schicksal und konnten gar nicht verstehen, warum ausgerechnet dieser begabte Mann sterben müsse. Er solle doch kämpfen und nicht einfach so dem als nah diagnostizierten Tod entgegengehen.

Zum Schluss lud er seine Familienangehörigen an den Lake Tahoe ein, fuhr in einem schnellen Motorboot mit ihnen über das spiegelglatte Wasser und genoss auch diese Momente. Er freute sich an gutem Wein, an gutem Essen, dem Blick auf den East River und anderen bisher überhörten Dingen. Von seiner Tochter Dina verabschiedete er sich mit dem Buch selbst. Sie war damals erst vierzehn und verarbeitete vieles in Gedichten.

Dann enden die Aufzeichnungen Eugenes

Der bewegendste Teil des Buches war für mich das Ende der Aufzeichnungen von Eugene und die Fortsetzung durch seine Frau Corinne. Auf 155 Seiten war einem dieser Manager mit seinen vertrauten Denkstrukturen so nahe gekommen, dass die finale Beschreibung seiner letzten Tage dem oben geschilderten Miterleben des Abschiedes von unseren Vätern glich.

Auch wenn Gott recht selten in diesem Buch thematisiert wird, kommt doch zum Ausdruck, dass eine Hoffnung auf die Ewigkeit bei Gott sowie ein guter Abschluss von Beziehungen wesentlich zur Entspannung und einer friedlichen "Transition" beitragen.