Mitte November fand in Leipzig eine mehrtägige Konferenz zu geistlichem Missbrauch statt. Sie war von der Katholischen Akademie des Bistums Dresden-Meißen organisiert worden und von hochkarätiger und breiter Expertise begleitet. Wegen Corona konnte die Veranstaltung virtuell besucht werden.
Mitgliederschwund, Imageschaden und spektakuläre Racheakte
 haben die katholische Kirche veranlasst, aktiv gegen Missbrauch in den 
eigenen Reihen vorzugehen. Dabei geht es bei weitem nicht nur um 
sexuellen Missbrauch, sondern den viel weiter gefassten Missbrauch von 
Macht und Vertrauen sowie das bewusste Überschreiten von Grenzen - im 
Namen Gottes. Das Basiswerk der Christen - die Bibel - beschäftigt sich 
schon auf den ersten Seiten mit Tendenzen des religiösen Missbrauchs. So
 lautet das zweite der berühmten zehn Gebote: "Du sollst den Namen des 
HERRN, deines Gottes, nicht missbrauchen." (2.Mose 20,7) "Denn der HERR 
wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen missbraucht", geht 
der Text weiter.
Nach 1.990 Jahren Kirchengeschichte sind 
geistlich Verantwortliche lange schon im Handlungsschema der biblischen 
Pharisäer angekommen. Die Pharisäer waren zunächst auch nur eine 
Laienbewegung von Menschen, die mit ihrem Lebensstil Gott gefallen 
wollten. Nachdem dann eine Königin der Region auf sie aufmerksam 
geworden war und sich von ihnen hatte begeistern lassen, war der Schritt
 zu Finanzen und politischer Macht geebnet. Die ursprünglichen Werte 
wurden durch Machtbestreben und Missbrauch ersetzt. In Matthäus 23 wird 
die Wirkungsweise detailliert beschrieben. Matthäus 23 zeigt auch, dass 
Jesus kein weltfremder Schwächling war, sondern klar die Probleme seiner
 Zeit auf den Punkt gebracht hatte - egal, wer gerade vor ihm stand.
Das Christentum hat 
eine ähnliche Entwicklung durchgemacht. Deshalb gab es immer wieder 
Abspaltungen und Neugründungen. Wohl jede dieser Abspaltungen hatte 
Ambitionen, es endlich richtig zu machen und nicht in die alten Fallen 
von Macht und dessen Missbrauch zu tappen. Dass das dauerhaft gelingt, 
scheint eine Illusion zu sein. Deshalb ist es umso wichtiger, 
Mechanismen zu entwickeln, toxischen Leitungsanwandlungen vorzubeugen, 
oder diese wirkungsvoll aus der jeweiligen Struktur zu entfernen.
Lernen von Don Bosco
Ausgerechnet
 die katholische Kirche, der gerne ein ausgeprägter Hang zu Tradition 
und Macht unterstellt wird, ist nun Vorreiter bei der Klärung des Themas
 Missbrauch. Der Stein kam beim Kinder- und Jugendwerk der "Salesianer Don Boscos"
 ins Rollen. Im Frühjahr 2010 setzte sich das Werk aktiv mit Vorwürfen 
des sexuellen Missbrauchs auseinander und konnte die Angelegenheit durch
 relativ simple Handlungsprinzipen klären:
1) Betroffene wurden angehört und ernst genommen.
2) Die Vorgänge wurden durch eine unabhängige Instanz geprüft.
3) Es wurde konsequent gegen die Täter vorgegangen.
Das
 Werk "Don Bosco" konnte durch diese Maßnahmen nachhaltig seinen Ruf 
verbessern und das Vertrauen zurückgewinnen. Da immer wieder Berichte zu
 Missbrauch durch die Presse gingen und auch immer mehr Bücher darüber 
geschrieben wurden, hat die katholische Kirche in einigen Bistümern 
Arbeitsgruppen eingerichtet - wie beispielsweise in Osnabrück. 
Seelsorger tasten sich an das Thema heran und stellen neben sexuellem 
Missbrauch auch jede Menge weiteren Machtmissbrauch fest. Bei der 
Klärung kommt das oben beschriebene 3-Punkte-Programm von "Don Bosco" 
zum Einsatz.
Konferenz der Katholischen Akademie "Gefährliche Seelenführer?"
Unter
 dem Titel "Gefährliche Seelenführer? Geistiger und geistlicher 
Missbrauch" fand Mitte November eine virtuelle Konferenz der Katholischen Akademie des Bistums Dresden-Meißen
 statt. An zwei Tagen trafen sich hochkarätige Sprecher und Experten, um
 den religiösen Missbrauch aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten:
 Erfahrungsberichte, systemische Betrachtungen, Psychoanalyse, 
internationale Erfahrungen, Handlungsempfehlungen, Buchautoren, 
theologische Aspekte, Kirchenrecht und Strafrecht standen auf dem 
Programm. Die Moderation war sehr professionell und per Zoom 
zugeschaltete Teilnehmer konnten Fragen an die Vortragenden stellen. Der
 Vernetzungsgrad von Betroffenen und Experten wäre sicher höher gewesen,
 wenn die Konferenz - wie geplant - als Präsenztreffen in Leipzig 
stattgefunden hätte. Durch Corona musste die Veranstaltung ins Internet 
verlagert werden. Allerdings konnte dadurch eine beachtliche Zahl 
weiterer Interessenten teilnehmen.
Mit dem Aufkommen aggressiv 
agierender Sekten in Frankreich, wurde dort im Jahr 2001 das Strafgesetz
 um einen entsprechenden Tatbestand ergänzt. Artikel 223-15-2 stellt es 
unter Strafe, wenn sexueller, finanzieller oder autoritärer Missbrauch 
oder der Missbrauch von Schwäche oder geschwächter Personen stattfindet.
 Diese geschwächten Personen können auch Personen sein, die in gutem 
Glauben bei einem Seelsorger ihr Herz ausschütten und anschließend 
feststellen müssen, dass dieser das Wissen zur Manipulation, Erpressung 
oder Vorteilsgewinnung ausnutzt. In Deutschland ist das Strafrecht noch 
nicht so weit. Das Thema ist hier relativ unterbelichtet. Obwohl es im 
Kirchenrecht schon gewisse Regelungen gibt, mit denen ein konsequentes 
Vorgehen gegen "Wölfe im Schafspelz" möglich ist.
Evangelische Kirche 
In
 der evangelischen Kirche scheint das Thema noch nicht angekommen zu 
sein. Hier zeigt man gerne mit dem Finger auf den sexuellen Missbrauch 
bei den Katholiken. Dabei gibt es auch aus der evangelischen Kirche 
Berichte von Missbrauch. Dieser ist aber eher im psychisch-geistlichen 
Bereich zu verorten und geht in Richtung Mobbing, Nötigung oder Betrug.
Freikirchen und die Rolle der Evangelischen Allianz 
Einen ausgeprägten Mangel an Selbstreflexion zeigen evangelikale Freikirchen. Diese sammeln sich unter dem Dach der Deutschen Evangelischen Allianz (DEA).
 Auch wenn die Allianz nach eigenen Angaben weit über eine Million 
Christen in Deutschland vertritt, hat sie ihr Nischendasein behauptet 
und bringt sich nur einmal pro Jahr mit der Allianz-Gebetswoche ins 
Gespräch. Hochproblematische Gruppen quer durch das Bundesgebiet nutzen 
die einfach zu erwerbende Mitgliedschaft in der Allianz als Etikett zur 
Verschleierung autoritativer Gemeindekonzepte. Diese Gemeinden entziehen sich jeglicher externer Kontrolle und sind 
gegenüber der Allianz weder rechenschaftspflichtig noch sanktionierbar. 
Viele dieser Gruppen sind so neu, modern und anziehend, dass ein 
Imageverlust durch Missbrauch zurzeit noch keine Rolle spielt. Falls es 
in diesen Konstrukten übergeordnete Instanzen gibt, fühlen sich diese in
 der Regel nicht zuständig. Ignoranz und Vernachlässigung der 
Berufsaufsicht stellen dabei noch die harmlose Variante dar. Oft genug 
wird der religiöse Missbrauch direkt vor den Augen und in aktiver 
Mitwirkung der höheren Leitungsebenen praktiziert.
Als Folge der NDR-Doku "Mission unter falscher Flagge"
 wurde bei der Deutschen Evangelischen Allianz eine Ombudsstelle 
eingerichtet. Hilfesuchende berichten, dass diese Ombudsstelle 
hauptsächlich den Tätern in die Hände spiele. Betroffene werden zunächst
 mit der Beschaffung von Beweismaterial beschäftigt und mit der Aussicht
 auf eine Klärung ruhig gestellt. Durch eine homöopathische Finanzdecke 
und fehlende Möglichkeiten der Sanktion verlaufen die Fälle 
normalerweise im Sande oder werden wegen unzureichender Expertise 
komplett gegen die Wand gefahren. Sehr zum Schaden der Betroffenen, die 
durch das Scheitern des Klärungsversuchs noch tiefer in ihr Trauma 
abrutschen und zuweilen sogar Selbstmord begehen.
Sichtbar und vernetzt 
Mit
 der virtuellen Konferenz der Katholischen Akademie des Bistums 
Dresden-Meißen wurde ein wichtiger Anfang gemacht. Der Vernetzungsgrad 
von Betroffenen, Seelsorgern und anderen Experten steigt. Für toxische 
Leiter und Missbraucher wird es immer enger. Vor allem wird das Thema 
durch solche Konferenzen auch weiter in die öffentliche Wahrnehmung und 
vor den Gesetzgeber getragen.