Donnerstag, 25. Januar 2018

Lebende bei den Toten

Eine Grabstein-Odyssee veranlasste mich heute, die tägliche Walking-Runde zu erweitern. Die Strecke wurde damit etwa doppelt so lang und führte mich über den Parkfriedhof Marzahn.



Die Lebenserfahrung lehrt, dass Versicherungen und Grabsteine nie bei Bekannten in Auftrag gegeben werden sollten. Mein Schwiegervater war Ende 2016 gestorben. Der Grabstein wurde über die Familie eines Mitschülers meines Sohnes bestellt. Ein Kunstprojekt sollte der Stein werden mit rötlicher Marmorierung, aufgesetzten Buchstaben und zwei Stäben zwischen den beiden Teilen des Steins. Im Katalog erinnerte er ein wenig an die Darstellung der Gesetzestafeln Moses.

Dunkler Fleck und Baufortschritt

Ein halbes Jahr später stand der Stein am Grab. Die Stäbe fehlten. Ein dunkler Fleck bildete sich hinter dem Bibelspruch. Meine Schwiegermutter war frustriert. Sie legte das Schwarz nicht ab und ging immer wieder zum Grab, um nach dem Baufortschritt zu schauen. Nach einem Jahr wurden die Stäbe montiert. Der Stein sah nun aus, als hätte er Anschlüsse für warmes und kaltes Wasser. Er befand sich außerdem im gleichen Zustand, wie die Badegäste in unserem tunesischen Hotel, nachdem die Betonspritze an der benachbarten Baustelle undicht geworden war.

Gestern erhielten wir die Info, dass alles in Ordnung sei. Sogar ein Bild war dabei. Das wollte ich mir gleich in natura ansehen. So verlegte ich meine Walking-Runde über den Friedhof.

Orientierungsvermögen

Wie schon im Zusammenhang mit meinem Hörtest erwähnt, bin ich geübt in der selektiven Wahrnehmung. Dinge, die mich nicht interessieren, fallen einfach raus und bieten damit Kapazität für interessante Dinge. Das kann gelegentlich unpraktisch sein, insbesondere wenn ich mich an Orten orientieren muss, zu denen ich keine wirkliche Beziehung habe. Dazu gehören Friedhöfe. Besonders fatal kann das enden, wenn diese Friedhöfe die Grundfläche eines Quadratkilometers haben und ich ein bestimmtes Grab finden muss.

Ich kam heute von der anderen Seite. Beim letzten Mal hatte ich mir gemerkt, dass der Weg von dieser Seite aus sehr lang ist, länger als gewünscht. Zusätzlich hatte ich mir eine Steinfläche gemerkt, auf der eine knallrote Blume lag. Eine knallrote, dahinwelkende Blume ist sicher keine geeignete Erinnerungsmarke für einen Ort, der auf Zeitlosigkeit ausgerichtet ist. Leben, Vergänglichkeit und Ewigkeit treffen hier aufeinander. Gleichmäßigen Schrittes stapfte ich den Weg entlang. Friedhofsarbeiter pflegten die Grünanlagen. Ein kleiner Kipper stand hinten auf dem Weg. Hier abbiegen? Nein, weiter!

Leben, Tod und Ewigkeit

Und tatsächlich, erspähte ich dort rechts die knallrote Blume auf dem flachen Stein: Urnen-Begräbnis. Der Blick haftete auf der Blume und der Schritt ging nach rechts. Hier war der Weg. Leben und Tod so nah beieinander. Ich lebe, die Blume welkt und was ist jetzt mit meinem Schwiegervater, der schon in die Ewigkeit übergegangen ist? Ist er hier? Ist er woanders? Diese Frage konnte ich nicht beantworten und ging weiter zu seinem Grab.

Der Stein sah diesmal sauber bearbeitet aus. Auch die Pflanzen waren bei der Montage nicht niedergetrampelt worden. OK, wir hatten 350 Euro als Reklamationssumme veranschlagt. Ich machte Fotos und sendete diese per WhatsApp an Frau und Schwiegermutter. Die Erfahrung zeigt, dass der Grabstein gelegentlich auch als Meilenstein der Trauerbewältigung dienen kann.

Dann ging ich weiter. Der Rest des Weges war unkritisch. Den kannte ich besser. Einmal links und einmal rechts. Dann verließ ich den Friedhof.

Ziel und Segen

Auf der Zielgeraden hatte ich den starken Impuls, den kleinen Schlenker an der Senioren-Residenz meiner Mutter vorbei zu gehen. Das Walking nutze ich gerne zum Gebet. So betete ich auf diesem Abschnitt für meine Mutter.

Als ich kurz vor dem Eingang angelangt war, kam meine Mutter heraus. Perfektes Timing. Sie hatte einen Blumenstrauß in der Hand. Wir umarmten uns. Sie sagte mir, dass sie nach Karlshorst zu einer Beerdigung fahre. Soundso sei gestorben, den ich aber nicht kannte. "Tschüss und ..", die übliche Floskel "viel Spaß" blieb mir im Halse stecken. Meine Mutter durchbohrte mich mit ihren Blicken. Sie ahnte, was mir auf der Zunge lag. "... einen gesegneten Tag!", wünschte ich ihr und wir gingen unserer Wege.